Zitate von Adalbert Stifter(23.10.1805 Oberplan/Böhmerwald - 28.01.1868 Linz) Unsere Zeit ist eine ganz verschiedene. Sie ist auf den Zusammensturz jener gefolgt, und erscheint mir als eine Übergangszeit, nach welcher eine kommen wird, von der das griechische und römische Altertum weit wird Übertroffen werden. Wir arbeiten an einem besondern Gewichte der Weltuhr, das den Alten, deren Sinn vorzüglich auf Staatsdinge, auf das Recht und mitunter auf die Kunst ging, noch ziemlich unbekannt war, an den Naturwissenschaften. Wir können jetzt noch nicht ahnen, was die Pflege dieses Gewichtes für einen Einfluß haben wird auf die Umgestaltung der Welt und des Lebens. Wir haben zum Teile die Sätze dieser Wissenschaften noch als totes Eigentum in den Büchern oder Lehrzimmern, zum Teile haben wir sie erst auf die Gewerbe, auf den Handel, auf den Bau von Straßen und ähnlichen Dingen verwendet, wir stehen noch zu sehr in dem Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austauschens gemeinsam werden, daß allen alles zugänglich ist? Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist, und was sie weiß, absperren, bald wird es aber nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden. Dann wird, um der Allberührung genügen zu können, das, was der Geringste wissen und können muß, um vieles größer sein als jetzt. Die Staaten, die durch Entwicklung des Verstandes und durch Bildung sich dieses Wissen zuerst erwerben, werden an Reichtum, an Macht und Glanz vorausschreiten und die andern sogar in Frage stellen können. Welche Umgestaltungen wird aber erst auch der Geist in seinem ganzen Wesen erlangen? Diese Wirkung ist bei weitem die wichtigste. Der Kampf in dieser Richtung wird sich fortkämpfen, er ist entstanden, weil neue menschliche Verhältnisse eintraten, das Brausen, von welchem ich sprach, wird noch stärker werden, wie lange es dauern wird, welche Übel entstehen werden, vermag ich nicht zu sagen; aber es wird eine Abklärung folgen, die Übermacht des Stoffes wird vor dem Geiste, der endlich doch siegen wird, eine bloße Macht werden, die er gebraucht, und weil er einen neuen menschlichen Gewinn gemacht hat, wird eine Zeit der Größe kommen, die in der Geschichte noch nicht dagewesen ist. Ich glaube, daß so Stufen nach Stufen in Jahrtausenden erstiegen werden. Wie weit das geht, wie es werden, wie es enden wird, vermag ein irdischer Verstand nicht zu ergründen. Nur das scheint mir sicher, andere Zeiten und andere Fassungen des Lebens werden kommen, wie sehr auch das, was dem Geiste und Körper des Menschen als letzter Grund inne wohnt, beharren mag.«Adalbert Stifter (1857): Der Nachsommer, GW (Insel 1959) Bd. 4, S. 537ff Kritiken - Betrachtungen: Die deutsche Literatur ist eine späte Literatur. Ihre ersten Dramen
schrieb Lessing hundert Jahre nach Calderon, Corneille, Racine, Molière,
hundertfünfzig Jahre nach Shakespeare. Goethes "Werther"
erschien und begründete die bis heute lebendige erzählende
Prosa in deutscher Sprache, als Swift längst und Sterne eben gestorben
war, als die französische Prosa bereits endgültig Maß
und Form erreicht hatte. Beim Weggehn schenkte er mir den Nachsommer, Adalbert Stifters
bereits klassisch gewordenes Prosa-Epos. "Darin, lieber Freund,
ist Harmonie und Ruhe." Der Schatz der deutschen Prosa. - Adalbert Stifter hat seinen Platz als herausragender Prosaist. Es scheint jedoch, er wird mir belobigt als gelesen. Es herrscht eine Art Nostalgie und nachholende Überbewertung, als ob damit Heutige beweisen wollten, wie verständig und gebildet sie sind. Stifter der Edle, der Aufklärer, der Gute, der literarisch Anspruchsvolle. Da tut eine bissige Betrachtung, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt, die, trotz genereller Wertschätzung des Autors, sein Gelabbere und Gesabbere, seine inhumane Kälte, die er katholisch drapiert und kaschiert, sein egoistisches Desintresse am Mitmensch, das ihn vieles meist nur als "Ding" wahrnehmbar werden lässt, der überhaupt so verdinglicht dachte, dass ihm dabei und deshalb die eigene Verschlossenheit und angepasste Inhumanität nicht aufging, blosstellt und belegt, sehr wohl. Deshalb ist die Kritik "Der sanfte Unmensch - Einhundert Jahre Nachsommer" von Arno Schmidt jedem zu empfehlen! (Enthalten im 1958 erschienen Buch DY NA SORE). Wie er, so im Vorbeidenken und -lesen, auch Nietzsche einen Deppen nennt, weil er sich laienhaft zu o.a. Lobhudelei hergibt, ist köstlich. Wie er die Kälte des Unmenschen aus Oberösterreich blosslegt, ist eindrücklich und erschreckend: "Alle Gestalten im 'Nachsommer', von der ersten bis zur letzten,
sind hinsichtlich Realität nur selektiv unterrichtet. Kein Konflikt
der Generationen. Man bewegt sich zeitlupig ; denn : 'Leidenschaft ist
unsichttlich', wie Stifter in unbegreiflicher Geistesverengung dekretiert,
und sich damit selbst dichterisch entmannt hat. Der Würgengel vermeinter
Sittsamkeit garantiert die stereotypste Starre und Kälte : im ganzen
Buch lacht nicht ein Mensch !
2005 wird der 200. Geburtstag von Adalbert Stifter gefeiert. Grund für viele Beiträge, Analysen und Kommentare, Deutungen und Kritiken in Buch- und Artieklform. Hier eine kleine Auswahl: Matthias Kamann offeriert eine kurze Übersicht über einige Buchpublikationen (DIE WELT, 22.10.2005) in seinem Beitrag: Bücher über Stifter Über manchen Schriftsteller wurde so viel Kluges geschrieben, daß sein Werk vom Glanz der Interpretationen überstrahlt wird. Dies trifft auf Adalbert Stifter nicht zu: Die Deutungen seines Lebens und Schreiben sind so, daß Stifter allemal den höheren Rang behält. Damit ist schon das Beste über die Interpretationen gesagt, sowohl über die alten der Anbeter, die einst sein "Sanftes Gesetz" für die tiefste Wahrheit erklärten, als auch über die neueren, in denen die Generalverklärung durch den Generalverdacht ersetzt wird (die meisten Bücher über Stifter kommen halt aus Österreich): Hinter jeder Liebesidylle muß doch eine verdrängte Libido und in jeder Naturschilderung muß doch der gewalttätige Ordnungswille eines in der Restaurationsepoche Gescheiterten stecken. So schreibt der Stifter-Biograph Wolfgang Matz in einem Essay mit dem Titel "Gewalt des Gewordenen" (Droschl, 101 S., 11,67 Euro) über Stifters gemächliche Idyllik: ""Diese fürchterliche Wendung der Dinge', mit der ihm jeder Augenblick zu drohen scheint, ist nur noch dort zu bannen, wo überhaupt keine Wendung, keine Bewegung mehr denkbar wird. Nur wo das Leben zu Stein wird, ist es vom Tode erlöst." Wo solcherart Stifters Dingwelt als irgendwie verkehrt gilt, haben Bestand nur jene etwa 10 Prozent des Werkes, in denen Gewalt und Leidenschaften vorkommen; auf sie stürzen sich die Deuter, um jene Widersprüche zu finden, aus denen etwa Leopold Federmair seine Theorien über "Adalbert Stifter und die Freuden der Bigotterie" konstruiert (Otto Müller, 334 S., 24 Euro). Ein Lichtblick ist der Schriftsteller Arnold Stadler, der zwar auch nicht von der Verdachtsrhetorik loskommt, aber in "Mein Stifter" (Du Mont, 196 S., 17,90 Euro) die Kraft dieser Poesie immerhin anspricht: "Stifters Traum vom Glück hat das Glück des Lesers ermöglicht." Man würde von diesem Glück gern mehr lesen. Und inspirierter hätte auch Peter Bechers Biographie "Adalbert Stifter. Sehnsucht nach Harmonie" ausfallen können (Friedrich Pustet, 253 S., 24,90 Euro). Doch angesichts der Irrwege der Stifter-Deutung ist man schon zufrieden, daß Becher einfach nur darlegt, was es über Stifters Leben und Werk zu berichten gibt. Mit freundlicher Publikationserlaubnis des Autors. Reinhold Aumaier: Stifter? Lebt. DIE FURCHE, 13.10.2005 Christian Begemann: Erschriebene
Ordnung. Adalbert Stifters "Nachsommer". Literaturkritik.de
Klaus Bellin: Das erträumte Glück. NEUES DEUTSCHLAND, 22./23.10.2005 Michael Donhauser: Die Kraft des Wortes. Stifters "Witiko". DIE FURCHE, 13.10.2005 Leopold Federmair: Das sanfte Gesetz und das Tigerartige, das in uns
schlummert. Volltext 5/2005 Cornelius Hell und Brigitte Schwens-Harrant: Stifter? Lebt. Dossier. Weltordnungswahn. DIE FURCHE, 13.10.2005 Hermann Kurzke: Das Opium der Nostalgie. Grandios langweilig: Wie Adalbert
Stifter, der vor 200 Jahren zur Welt kam, am besten genossen werden
sollte Wolfgang Matz: Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters. Auszug aus einem längeren Essay. VOLLTEXT 5/2005 Wolfgang Matz: Das unsanfte Gesetz. Über Brüche in der Poetologie Adalbert Stifters.Auszug aus seinem Buch: Gewalt des Gewordenen. Zum Werk Adalbert Stifters. Literaturverlag Droschl, Graz 2005, Literaturkritik.de Ulrike Matzer: Gefesselter
der Gattenliebe. Günther Eisenhuber hat Adalbert Stifters Liebespost
gesammelt. Literaturkritik.de Evelyne Polt-Heinzl: Rezension von Leopold Federmair: Adalbert Stifter
und die Freuden der Bigotterie. Evelyne Polt-Heinzl: Stifter, wie er lebte ... DIE FURCHE, 13.10.2005 (Rezension der Stifter-Biografien von Peter Becher, Leopold Federmair und Lutz Holzinger) Klemens Renoldner: Stifter, wie er lebte und das Glück erschrieb. DIE FURCHE, 13.10.2005 (Rezension von Frühwalds Stifter-Lesebuch, Stadlers "Mein Stifter" und Matz' Stifter-Studien) Thilo Rissing: Die Abgründigkeit der Natur. Zur Neuausgabe von Adalbert Stifters "Sämtlichen Erzählungen nach den Erstdrucken" Literaturkritik.de Oliver Ruf: Hinter
der Erfahrung der Entfremdung. Michèle Godau über Mythos
und Ritual bei Adalbert Stifter und Hanns Henny Jahnn. Literaturkritik.de
Hannelore Schlaffer: Vom Sensationellwerden der Langeweile. Adalbert Stifter und die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 22.10.05 Helmut Sturm: Ein
genuin moderner Autor. Wolfgang Matz bringt das Werk Adalbert Stifters
auf den Begriff. Literaturkritik.de Jan Süselbeck: Optimisten schreiben schlecht. Über Widersprüche in Arno Schmidts Kritik an Adalbert Stifters "Nachsommer". Literatukritik.de - Der Text ist ein Auszug aus Jan Süselbecks bei Stroemfeld, Frankfurt am Main erscheinendem Buch "Das Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt & Thomas Bernhard". Jan Süselbeck: Peinliche
Verwandtschaft. Über Adalbert Stifters Rolle im Werk Thomas
Bernhards - mit einigen Seitenblicken auf Arnold Stadlers Annäherung
"Mein Stifter". Literaturkritik.de - Detailliertere Ausführungen
zu Bernhards Stifter-Rezeption finden sich in Jan Süselbecks demnächst
bei Stroemfeld, Frankfurt am Main erscheinender Dissertation "Das
Gelächter der Atheisten. Zeitkritik bei Arno Schmidt & Thomas
Bernhard", auf die der vorliegende Text passagenweise zurückgeht. Karl Wagner: Zum 200. Geburtstag ist seine Ästhetik keineswegs
veraltet - Adalbert Stifters andere Art zu erzählen. NEUE
ZÜRCHER ZEITUNG, 22.10.05
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