Zitate von Ludwig Marcuse

(08.02.1894 Berlin - 02.08.1971 München)


Denken ist eine Anstrengung, Glauben ein Komfort.

Die Zeit heilt nicht alles; aber sie rückt vielleicht das Unheilbare aus dem Mittelpunkt.

Für die Gesellschaft ungefährlich ist noch, wer sich nur ärgert, nicht mehr, wer Ärgernis nimmt.

Die Vernunft macht immer heller, in welchem Dunkel wir leben.

Jeder Glaube ist Imitation oder Rechtfertigung einer vorherrschenden Stimmung.

Der gesunde Menschenverstand ist oft eine der ungesundesten Verständnislosigkeiten.

Jede Lehre, die sich als absoslute Wahrheit setzt, ist ein Herd von Kriegen.

Die Stilisierung der Vergangenheit und Gegenwart auf "Jammertal" ist unmenschlich: ob sie christlich resigniert offeriert wird oder utopisch-aktivistisch. Wer nie erfahren hat, daß die Hölle auch voller Himmel ist, ist der ärmste Mensch auf der Welt.

Niemand denkt an "Gott".
Jeder denkt an geliebtes Irdisches und nennt es mit dem geliebtesten Namen. Spinoza dachte ans Denken: amor dei intelletualis. Mystiker dachten alles Irdische weg und nannten das Sich-Verflüchtigen des letzten Gefühls, der letzten Phantasie: Gott.
Mit Gott eins werden ist eine Chiffre für die Konzentration auf das Glück, dessen man fähig ist.

Hinknien ist noch kein Beweis - weder für einen Gott noch für einen Gläubigen; nur dafür, daß einer nicht mehr stehen kann.

Ein Führer entsteht nur, wenn eine Gefolgschaft bereits da ist.

Der humane Humanismus zerstört zwei menschenfressende Götter: den Richter im Jenseits - und den fernen Tag, an dem auf Erden die himmlische Anarchie verwirklicht wird.
Der humane Humanismus begnügt sich nicht mit der gegenwartsfeindlichen Zukunft.

Man findet in Büchern selten etwas anderes, als man zu finden gelernt hat. Nur wenige lesen mit eigenen Augen.

Als Sündenbock ist jeder Mitmensch, jedes Mit-Volk brauchbar - am brauchbarsten der Schwächste und der Stärkste: der, welcher sich nicht wehren kann, und der, gegen den man sich nicht wehren kann.

Die Tabuierung von Antworten ist nie so schlimm wie die Tabuierung von Fragen.

Hasse deinen Nächsten wie dich selbst!
Gegen manche Menschen (inklusive sich selbst) ist man am besten gerüstet, wenn man mit ihnen verfeindet ist.

Weltanschauung ist nicht selten Mangel an Anschauung.


    Aus: Das Märchen von der Sicherheit oder Die unverschämte Vernunft. Ein Essay. Herausgegeben und eingeleitet von Harold von Hofe. Zürich, Diogenes 1981:

"Sicherheit ist wahrscheinlich eine Episode zwischen zwei Unsicherheiten: die, in welcher der Mensch lebte vor Beginn der Kultur - und die, welcher der Mensch sich nähert. Es ist sehr schwer, sich von der Unsicherheit am Ende der Kulturen ein Bild zu machen.

Die Natur hat vergessen, daß sie Chaos war. Der Zusammenhang zwischen Vergessen und Sicherheit ist erheblich. Sicherheit ist zu einem guten Teil vergessene Unsicherheit. Vergessen schafft Stabilität.

Ein solches Vergessen deckt auch den Kampf zwischen dem Menschen und den nicht-menschlichen Lebewesen zu - und die Unsicherheit, die sie schaffen. ... Vielleicht ist die Unsicherheit des Menschen innerhalb der Menschen-Gesellschaft nie mehr so groß gewesen - wie sie es einmal war, innerhalb der Tier-Gesellschaft. ... Das Homo homoni lupus entstammt dem Vergessen, was einmal ein Wolf gewesen ist.

Wenn der äußere Feind stark genug ist, pflegt der Hader unter den gemeinsam Bedrohten gering zu sein. Gab es vielleicht eine Zeit, in der die Menschen aus gemeinsamer Unsicherheit Brüder waren?

Gegenwärtig, wo die Devise "Nie nichts vergessen!" zu einer hohlen schamlosen Scham- und Opferkultur pervertiert, sind solche Sätze über mögliche Hinter- oder Untergründe der Unsicherheit und ihres Gegenstücks, des Wissens, Erinnerns und ihrer Gegenstücke, dem Vergessen, vielleicht provokant interessant.
Prüft man die Bibliografien, erhält man eine lange Liste von Titeln zum Begriff "Vergessen". Die Hauptbereiche sind Psychologie und Geschichte bzw. Politik. Der Tenor ist meist "Gegen das Vergessen". Auch die Philosophie kennt und behandelt das Thema, das nicht modern ist, schon lange. Es soll hier nur auf zwei, drei Veröffentlichungen verwiesen werden: "Vom Nutzen des Vergessens", herausgegeben von Gary Smith und Hinderk M. Emrich (Berlin, Akademie Verlag 1996), "Gibt es eine Kunst des Vergessens?" Harald Weinrich (Jacob Burckhardt-Gespräche auf Castelen 1, Basel, Schwabe 1996) und derselbe Autor: "Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. (München, Beck 1997)

Der größte und klügste Diktator des Abendlandes, Ignatius von Loyola, der Gründer des Ordens der Jesuiten, ist nicht ausgekommen ohne das, was man nicht anders als Vernunft, Freiheit, Gesunden Menschenverstand nennen kann. Er hat zwar einen Gehorsam verlangt und durchgesetzt wie kaum ein anderer Diktator vor ihm oder nach ihm. ... Und trotzdem wollte dieser Gestrengste außerdem noch - was wir heute Freiheit und Gesunden Menschenverstand zu nennen lieben.

Er verlangte von seinen Leuten: daß sie in Freiheit wollen - was ihnen befohlen wird. Erzwungener Gehorsam macht unfreudig und stumpf. ... Er war anspruchsvoller als alle Tyrannen der Weltgeschichte: er wollte den freien, aufrechten, klugen, aktiven - Jasager.

In der Feindschaft gegen die Vernunft ist auch viel Feindschaft gegen eine von der Vernunft befestigte Unmenschlichkeit.

Die moderne Toleranz besteht aus Millionen Bekenntnis-Zwängen, die keine Inquisition zu überwachen braucht, weil das Interesse des Einzelnen dies Amt übernommen hat.


Eine gute Übersicht und Einführung in Werk und Wirkung von Ludwig Marcuse bietet das Büchlein "Ludwig Marcuse" von Dieter Lamping herausgegeben im Verlag Bouvier, Bonn 1987 (Sammlung Profile 25)