Zitate von Wolfgang Hildesheimer

Wolfgang Hildesheimer (9.12.1916 - 21.8.1991), Mitglied der Gruppe 47, hat schon 1983 aufgehört literarische Texte zu schreiben ("Das Ende der Fiktionen und andere Reden", 1984) und sich danach vorwiegend seinen Graphiken und Collagen gewidmet. Er ist einer jener jüdischen Geister und Künstler, deren wir mehr bedürfen.
(Hildesheimer hätte die Nichtironie ironisch verstanden, die vielleicht im vorigen Satz erlesen werden könnte, denkt man an seinen aus der Geschichte "1956 - ein Pilzjahr": "Wieviel ist uns durch ihn, den Großen, Einzigen erspart geblieben! Zu früh ist er gestorben, und wir können nicht umhin, festzustellen, daß auch heute ein Pilz am Platze wäre.")

22. September. Ereignis der Woche: die Ausstellung neuer Bilderrahmen von Mario Molé in der Galerie Kröller. Gestern nachmittag Eröffnung mit Sherry und vorzüglichen Käsestangen. Daß die Rahmen keine Bilder enthielten, wurde auch diesmal von den Anwesenden als selbstverständlich hingenommen. Sie seien - wie es im Katalog hieß - Objekte in sich so meisterhaft, daß ein Gemälde in ihrer Mitte diese sublime Vollkommenhiet stören, den Blick des Beschauers ablenken würde.
Der Rahmen als Selbstzweck: der Satz "l'art pour l'art" vielleicht in der extremsten Form seiner Anwendung. Ein Problem, das über das rein Ästhetische beinah hinauszugehen scheint und über das zweifelsohne in Zukunft auf berufener und vermutlich auch auf unberufener Seite viel diskutiert werden wird. Der Gedanke erscheint auch mir kühn, reizt jedoch zum Widerspruch, dem ich allerdings im Kreise der Geladenen keinen Ausdruck gab; seine Formulierung will überlegt sein. Nun bich ich freilich auch kein Experte in diesen Dingen.
Aus meinem Tagebuch. In: Ich trage eine Eule nach Athen und vier weitere Lieblose Legenden. Zürich, Diogenes 1956. (Neuedition 1962 im Suhrkampverlag: "Lieblose Legenden")

Denn Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit ist das Ende der Selbstkritik und der Tod des Künstlers.

Ich möchte sogar noch weitergehen und sagen, daß es nicht nur die Aufgabe der Kunst ist, die Wahrheit zu erfinden, sondern - umgekehrt - daß ein Werk, welches die Wahrheit enthält, nur ein Kunstwerk sein kann. Ein Historiker muß ein Dichter sein, sonst geht sein Werk an der Wahrheit vorbei und ist nichts als ein hohles Gerüst.
Wolfgang Hildesheimer: Die Kunst dient der Erfindung der Wahrheit (1955). In: Wolfgang Hildesheimer. Herausgegeben von Volker Jehle. Frankfurt/M., Suhrkamp 1989 (Suhrkamp Taschenbuch Materialien - st 2103)

Wolfgang Hildesheimer / Marco Guetg: "Nein, es ist zu Ende, und das Ende ist absehbar". In: Wolfgang Hildesheimer. Herausgegeben von Volker Jehle. Frankfurt/M., Suhrkamp 1989 (Suhrkamp Taschenbuch Materialien - st 2103):

    Guetg: Warum verstummen Sie in einer Zeit, in der es so viel zu sagen gäbe?

    Hildesheimer: In Anbetracht der Phänomene und Machenschaften auf dieser Welt fällt mir nichts mehr ein. Die Schriftsteller verstehen diese Welt nicht mehr, weil sie eine andere Sprache als die Wissenschaftler sprechen. ...
    Im weiteren glaube ich, daß es in ein bis zwei Generationen keine Leser mehr geben wird, weil die Menschheit sich zunehmend dem Überleben widmen muß.

    Guetg: Keine Leser mehr? Meinen Sie damit: keine Menschen mehr?

    Hildesheimer: Keine Leser von Fiktionen mehr.

    Guetg: Als Reaktion auf die Schrecknisse der Zeit haben Sie sich bewußt der Historie zugewendet, als eine Art Flucht vor der Wirklichkeit.

    Hildesheimer: Nennen Sie mir ein Buch, das die Schrecknisse unserer Zeit verhindert hätte. Die Literatur ist machtlos. Kein Buch, kein Bild, die ganze Kultur richtet nichts aus.

    Guetg: Die von Ihnen skizzierte Hoffnungslosigkeit, dieser grenzenlose Pessismismus, kann nur ein Mensch vertreten, der kein homo polticus ist. So wie das Schreckliche machbar ist, sollte logischerweise ja auch die Umkehrungmachbar sein.

    Hildesheimer: Dazu ist es zu spät.

    Guetg: Glauben Sie wirklich, daß diejenigen, die allen Grund hätten, sich betroffen zu fühlen, tatsächlich auch betroffen sind?

    Hildesheimer: Das glaube ich nicht. Ich bin sicher, daß bei vielen Menschen weder ethische noch moralische Überzeugungen das Handeln bestimmen. Es ist vielmehr die Überzeugung, das Opportune zu tun. Aber es ist nicht zuletzt der Profit, der dem Handeln zugrundeliegt.

Ich habe also gewissermaßen die Heimat verschmäht auf Kosten jener Heimatlosigkeit, die , von außen betrachtet, ein Merkmal des Juden ist und für mich, also von innen betrachtet, jene Heimatlosigkeit symbolisiert, in der wir - Jude oder nicht - alle heimisch sind. Sie ist die Quelle all meiner kreativen Aktivität. Ich will auf der Erde keine Heimat haben: Vielleicht offenbart sich nicht zuletzt in dieser Versagung mein Judentum. Ich will sie allerdings, im Gegensatz zu den frommen Juden, auch im Himmel nicht haben.
Wolfgang Hildesheimer: Mein Judentum (1977). In: Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfunzwanzig Jahren. Frankfurt/M., Suhrkamp 1988 (st1539)

Aber kommen wir zur Sache. Die Frage, die uns angeht, ist die: ist es tatsächlich heute noch die "wahre Aufgabe" des Schriftsellers, ein Meisterwerk zu schreiben? Und während ich, ein älterer Schriftsteller, sagen würde: Ja, das ist es, war es immer und bleibt es bis zum Ende der Literatur, würde die Mehrheit der jungen Schriftsteller in Deutschland allein schon den Begriff des Meisterwerkes mit Verachtung von sich weisen. Die Aufgabe des Schriftstellers, so würden sie sagen, ist, zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen. Die Gemäßigten sehen die Aufgabe im Schärfen des Bewußtseins und der rezeptiven Fähigkeiten des Lesepublikums. Die Extremen sagen: ein Schriftsteller, der seine Aktivität nicht in den unmittelbaren Dienst der Weltrevolution stellt, ist kein Schriftsteller, sondern ein Parasit.

Ich möchte nicht gern als ein Reaktionär vor Ihnen stehen. Meine politische Position ist links. Zwar bin ich gegen Terror und Gewalt jeder Art, aber ich bin der Meinung, daß der Kapitalismus abgeschafft werden muß, daß die Reichen ihrer Privilegien beraubt werden und die Hungrigen ernährt werden müssen. Daß, in anderen Worten, die Gesellschaft verändert werden muß. Ich weiß: das ist leicht gesagt. Aber es ist ebenso leicht geschrieben. Schwer ist nur aktive Abhilfe.

Die Versuche der Literatur, einschließlich der littérature engagée, unsere Situation anhand fiktiver Modelle in den Griff zu bekommen, sind gescheitert. ... Sartre, ihr Hauptvertreter, ist noch immer politisch tätig, er reist und besucht Anarchisten im Gefängnis, er hat dem Establishment abgeschworen, den Nobelpreis demonstrativ abgelehnt; aber was schreibt er? Ein mehrbändiges Werk über Flaubert.

Kunst ist Kreativität, nicht Wiedergabe - ich darf annehmen, daß Sie das schon irgendwo gehört haben. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß die Wörter "Kunst", "Künstler" und "Kreativität" für den politisch engagierten Schriftsteller lächerlich, wenn nicht gar verhaßt sind.

Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen (1975). In: Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfunzwanzig Jahren. Frankfurt/M., Suhrkamp 1988 (st1539)

Nachfolgende Zitate aus:
Wolfgang Hildesheimer: Ich werde nun schweigen. Gespräch mit Hans Helmut Hillrichs in der Reihe "Zeugen des Jahrhunderts", hg. von Ingo Hermann, Göttingen, Lamuv 1993 (Gesprächsaufzeichnung ZDF 20.+ 21.09.1989)

Ich bin kein übermäßig großer Freund der Logik überhaupt oder der Dinge des Lebens, die sich durch Logik beweisen lassen. Ich bin ein Anhänger des Unbewußten und der Sprache des Unbewußten, und es war eigentlich natürlich, daß ich mich mit solchen Stücken befaßte, die ja letztlich, wenn man sie genau untersucht, Fortsetzungen der "Lieblosen Legenden" sind.


Gibt es denn, rückblickend gefragt, so etwas wie ein historisches Verdienst des absurden Theaters? hat es seine Mission (...) erfüllt?
Nein, das hat es nicht. Ich fürchte, daß Literatur eben keine Funktionen erfüllt. Die Funktion der Literatur - ich bin bestimmt nicht der erste, der das sagt - ist, den Leser oder das Publikum oder die Menschen bewußter zu machen, hinzuhören und Worte nicht nur als Worte, sondern tatsächlich als Aktionen zu betrachten, und dazu reicht auch der Surrealismus nicht aus. Dazu reicht selbst die Psychonanalyse nicht aus. Die Kunst als Erziehungsfaktor hat immer versagt, obwohl ein Leben ohne sie undenkbar wäre. Vielleicht wäre alles noch wesentlich schlimmer, wenn es keine Kunst gäbe.


Den Adorno-Satz, daß man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben kann, (...) würde ich allerdings abwandeln. Ich würde sagen: Nach Auschwitz kann man nur noch noch Gedichte Schreiben. Die Literatur hat versagt.


Sie unerscheiden zwischen Wirklichkeit und Realität.
Wirklichkeit schließt die Möglichkeit in sich ein.
Alles, alles, die Möglichkeit, es geschieht oder nicht, während Realität nur das ist, was real ist. Einen Satz wie "In Deutsch sind die Begriffe Wirklichkeit und Realität nicht dieselben", einen solchen Satz können Sie nicht in eine andere Sprache übersetzen.

Es gibt keine Geschichten mehr zu erzählen. Es hat mir die Sprache verschlagen.(...) Wir schreiben über die Liebe, und in Wirklichkeit geht die Welt unter, verändert sich so, entwickelt sich alles zum Verhängnis, zum Verderben.
Und dagegen anzuschreiben, das ist eine vermessene Aufgabe.
Mann kann nicht über eine Sache schreiben. Da gilt wieder das Wort von Ezra Pound: Wer nicht über sich selbst schreibt, sondern über eine Sache, der ist verdammt.

Das heißt, die Zeiten, wo Peter Handke Ihnen vorgeworfen hat, das Endzeitgerede sei nichts, womit sich ein echter Schriftsteller beschäftigen könne, sind vielleicht vorbei.

Er hat es anders gesagt. Er hat gesagt: Sicheres Zeichen, daß einer kein Künstler ist, sei, wenn er das Gerede über die Endzeit mitmache. Das halte ich für völlig falsch. Im Gegenteil, ich glaube eben - wie Klee -, daß der Künstler etwas näher an der Schöpfung sitzt und ihre Symptome und Zeichen eher wahrnimmt als jemand anders.


Allgemeine Fundstücke aus Büchern der Bücherei Leipzig mit Einträgen aus dem Werk Wolfgang Hildesheimer

Aphorismen-Archiv - Wolfgang Hildesheimer

The Mozart-Project (Steve Boerner): Abschnitt über Wolfgang Hildesheimers Buch "Mozart"

Edition Verdier (über Wolfgang Hildesheimer, französisch)

Goethe-Institut über Wolfgang Hildesheimer (mit Links)

Rainer Pippings Leserattenforum: Rezension von Wolfgang Hildesheimer: "Paradies der falschen Vögel"

Viktor Schlawenz über ausgewählte Briefe Wolfgang Hildesheimers: Grämliche Weltverzweiflung (in Literaturkritik.de)

Patricia H. Stanley: Wolfgang Hildesheimer and His Critics. Note on her book by publisher Boydell & Brewer