Zitate von Wolfgang HildesheimerWolfgang Hildesheimer (9.12.1916 - 21.8.1991), Mitglied der Gruppe
47, hat schon 1983 aufgehört literarische Texte zu schreiben ("Das
Ende der Fiktionen und andere Reden", 1984) und sich danach vorwiegend
seinen Graphiken und Collagen gewidmet. Er ist einer jener jüdischen
Geister und Künstler, deren wir mehr bedürfen. 22. September. Ereignis der Woche: die Ausstellung neuer Bilderrahmen
von Mario Molé in der Galerie Kröller. Gestern nachmittag
Eröffnung mit Sherry und vorzüglichen Käsestangen. Daß
die Rahmen keine Bilder enthielten, wurde auch diesmal von den Anwesenden
als selbstverständlich hingenommen. Sie seien - wie es im Katalog
hieß - Objekte in sich so meisterhaft, daß ein Gemälde
in ihrer Mitte diese sublime Vollkommenhiet stören, den Blick des
Beschauers ablenken würde. Denn Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit ist das Ende der Selbstkritik und der Tod des Künstlers.
Ich möchte sogar noch weitergehen und sagen, daß es nicht nur die Aufgabe der Kunst ist, die Wahrheit zu erfinden, sondern - umgekehrt - daß ein Werk, welches die Wahrheit enthält, nur ein Kunstwerk sein kann. Ein Historiker muß ein Dichter sein, sonst geht sein Werk an der Wahrheit vorbei und ist nichts als ein hohles Gerüst. Wolfgang Hildesheimer / Marco Guetg: "Nein, es ist zu Ende, und das Ende ist absehbar". In: Wolfgang Hildesheimer. Herausgegeben von Volker Jehle. Frankfurt/M., Suhrkamp 1989 (Suhrkamp Taschenbuch Materialien - st 2103):
Hildesheimer: In Anbetracht der Phänomene und Machenschaften auf dieser Welt fällt mir nichts mehr ein. Die Schriftsteller verstehen diese Welt nicht mehr, weil sie eine andere Sprache als die Wissenschaftler sprechen. ... Guetg: Keine Leser mehr? Meinen Sie damit: keine Menschen mehr? Hildesheimer: Keine Leser von Fiktionen mehr. Guetg: Als Reaktion auf die Schrecknisse der Zeit haben Sie sich bewußt der Historie zugewendet, als eine Art Flucht vor der Wirklichkeit. Hildesheimer: Nennen Sie mir ein Buch, das die Schrecknisse unserer Zeit verhindert hätte. Die Literatur ist machtlos. Kein Buch, kein Bild, die ganze Kultur richtet nichts aus. Guetg: Die von Ihnen skizzierte Hoffnungslosigkeit, dieser grenzenlose Pessismismus, kann nur ein Mensch vertreten, der kein homo polticus ist. So wie das Schreckliche machbar ist, sollte logischerweise ja auch die Umkehrungmachbar sein. Hildesheimer: Dazu ist es zu spät. Guetg: Glauben Sie wirklich, daß diejenigen, die allen Grund hätten, sich betroffen zu fühlen, tatsächlich auch betroffen sind? Hildesheimer: Das glaube ich nicht. Ich bin sicher, daß bei vielen Menschen weder ethische noch moralische Überzeugungen das Handeln bestimmen. Es ist vielmehr die Überzeugung, das Opportune zu tun. Aber es ist nicht zuletzt der Profit, der dem Handeln zugrundeliegt.
Ich habe also gewissermaßen die Heimat verschmäht auf Kosten jener Heimatlosigkeit, die , von außen betrachtet, ein Merkmal des Juden ist und für mich, also von innen betrachtet, jene Heimatlosigkeit symbolisiert, in der wir - Jude oder nicht - alle heimisch sind. Sie ist die Quelle all meiner kreativen Aktivität. Ich will auf der Erde keine Heimat haben: Vielleicht offenbart sich nicht zuletzt in dieser Versagung mein Judentum. Ich will sie allerdings, im Gegensatz zu den frommen Juden, auch im Himmel nicht haben. Aber kommen wir zur Sache. Die Frage, die uns angeht, ist die: ist es tatsächlich heute noch die "wahre Aufgabe" des Schriftsellers, ein Meisterwerk zu schreiben? Und während ich, ein älterer Schriftsteller, sagen würde: Ja, das ist es, war es immer und bleibt es bis zum Ende der Literatur, würde die Mehrheit der jungen Schriftsteller in Deutschland allein schon den Begriff des Meisterwerkes mit Verachtung von sich weisen. Die Aufgabe des Schriftstellers, so würden sie sagen, ist, zur Veränderung der Gesellschaft beizutragen. Die Gemäßigten sehen die Aufgabe im Schärfen des Bewußtseins und der rezeptiven Fähigkeiten des Lesepublikums. Die Extremen sagen: ein Schriftsteller, der seine Aktivität nicht in den unmittelbaren Dienst der Weltrevolution stellt, ist kein Schriftsteller, sondern ein Parasit. Ich möchte nicht gern als ein Reaktionär vor Ihnen stehen. Meine politische Position ist links. Zwar bin ich gegen Terror und Gewalt jeder Art, aber ich bin der Meinung, daß der Kapitalismus abgeschafft werden muß, daß die Reichen ihrer Privilegien beraubt werden und die Hungrigen ernährt werden müssen. Daß, in anderen Worten, die Gesellschaft verändert werden muß. Ich weiß: das ist leicht gesagt. Aber es ist ebenso leicht geschrieben. Schwer ist nur aktive Abhilfe. Die Versuche der Literatur, einschließlich der littérature engagée, unsere Situation anhand fiktiver Modelle in den Griff zu bekommen, sind gescheitert. ... Sartre, ihr Hauptvertreter, ist noch immer politisch tätig, er reist und besucht Anarchisten im Gefängnis, er hat dem Establishment abgeschworen, den Nobelpreis demonstrativ abgelehnt; aber was schreibt er? Ein mehrbändiges Werk über Flaubert. Kunst ist Kreativität, nicht Wiedergabe - ich darf annehmen, daß Sie das schon irgendwo gehört haben. Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß die Wörter "Kunst", "Künstler" und "Kreativität" für den politisch engagierten Schriftsteller lächerlich, wenn nicht gar verhaßt sind. Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen (1975). In: Wolfgang Hildesheimer: Das Ende der Fiktionen. Reden aus fünfunzwanzig Jahren. Frankfurt/M., Suhrkamp 1988 (st1539) Nachfolgende Zitate aus: Ich bin kein übermäßig großer Freund der Logik
überhaupt oder der Dinge des Lebens, die sich durch Logik beweisen
lassen. Ich bin ein Anhänger des Unbewußten und der Sprache
des Unbewußten, und es war eigentlich natürlich, daß
ich mich mit solchen Stücken befaßte, die ja letztlich, wenn
man sie genau untersucht, Fortsetzungen der "Lieblosen Legenden"
sind.
Es gibt keine Geschichten mehr zu erzählen. Es hat mir die Sprache
verschlagen.(...) Wir schreiben über die Liebe, und in Wirklichkeit
geht die Welt unter, verändert sich so, entwickelt sich alles zum
Verhängnis, zum Verderben.
Allgemeine Fundstücke aus Büchern der Bücherei Leipzig mit Einträgen aus dem Werk Wolfgang Hildesheimer Aphorismen-Archiv - Wolfgang Hildesheimer The Mozart-Project (Steve Boerner): Abschnitt über Wolfgang Hildesheimers Buch "Mozart" Edition Verdier (über Wolfgang Hildesheimer, französisch) Goethe-Institut über Wolfgang Hildesheimer (mit Links) Rainer Pippings Leserattenforum: Rezension von Wolfgang Hildesheimer: "Paradies der falschen Vögel" Viktor
Schlawenz über ausgewählte Briefe Wolfgang Hildesheimers:
Grämliche Weltverzweiflung (in Literaturkritik.de) Patricia
H. Stanley: Wolfgang Hildesheimer and His Critics. Note on her book
by publisher Boydell & Brewer
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