Zitate von Friedrich Heer

(10.04.1916 - 18.09.1983 Wien)


Am 18.09.2003 jährt sich der Todestag von Friedrich Heer zum 20. mal. Bei Durchsicht der Internetverzeichnisse bzw. allgemeiner Kulturveranstaltungshinweise fand sich nur eine öffentliche Gedenkveranstaltung in Österreich, und zwar im ORF:

"Friedrich Heer - jetzt!"
Ort: ORF-Radio Kulturhaus, Argentinierstraße 30a, A-1040 Wien
Zeit: 20. Oktober 2003, 18:00 Uhr
Friedrich-Heer-Veranstaltung
Publikationen zum Thema:
Heer, Friedrich ; Liessmann, Konrad Paul (Hrsg.)
Das Wagnis der Schöpferischen Vernunft

Der Böhlau bringt einige Titel neu heraus; nicht, wie üblich, mit dem Autorennamen, sondern mit gleichgewichtig notiertem Herausgebernamen. Wie im Musikleben werden die Vermittler bald stärker beachtet als die Autoren (oder Komponisten). Dafür darf man dankbar sein, dass einige Texte wieder aufgelegt werden.

Im Radiokolleg von Ö1 eine vierteilige Sendung:
15., 16., 17. und 18.09.03, jeweils 9.30 h

Radiokolleg: Friedrich Heer
Der Patriot als Weltbürger
Gestaltung: Günter Kaindlstorfer
Zwanzig Jahre nach seinem Tod harrt der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer seiner Wiederentdeckung. Es ist still geworden um den linkskatholischen Historiker und Publizisten Friedrich Heer: Gerade zwei Titel aus dem umfangreichen Oeuvre des kosmopolitischen Österreich-Patrioten sind noch lieferbar: "Der Kampf um die österreichische Identität" und "Der Glaube des Adolf Hitler". Wie aktuell ist das Werk Friedrich Heers heute noch - dieser Frage gehen im Radiokolleg Konrad Paul Liessmann, Karl-Markus Gauss und andere prominente Zeitdiagnostiker nach.

Am 2.10.03 veranstaltet der MindMappingTable (im Management Club, 1010 Wien, Kärntnerstrasse 8) einen Abend zum Thema "Das andere Europa - Friedrich Heer und seine Visionen". Impulsreferat "Friedrich Heer - der unmoderne Moderne" von Dr. Haimo L. Handl; Lesung aus Texten Friedrich Heers von Dr. Carlo Willmann.


Aus dem Artikel "So einfach ist das, urban zu sein", DIE STADT, Heft 21 der Mitteilungen des Instituts für Gesellschaftspolitik, Wien (1977). Auch abgedruckt in Wien Aktuell 4/1977:

Urbanität, was ist das, heute?

Ein Leitmotiv zieht sich durch viele literarische Ansichten Wiens in diesem unserem Jahrhundert und bereits im Jahrhundert des Franz Grillparzer, des Ferdinand von Saar und des frühen Freud: Diese Stadt ist eine lose und seltsam dichte Verbindung von Orten, an denen Einsamkeit zuhause ist. Verlassenheit, innere Einsamkeit von Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben, die sich längst zerstritten haben, die auch beim Heurigen gegeneinander sitzen und auf der Straße sich anschreien, aneinandergedrängt in einer überfüllten Straßenbahn...

Sind, wie es ja oft genug gesagt und geschrieben wurde, die Städte der industriellen Großgesellschaft nicht Feinde jeder Urbanität?
Urbanität hat etwas mit Freiheit, mit Freiheiten zu tun. Mit spezifisch städtischen Freiheiten. "Stadtluft macht frei".

Wer eine mögliche Urbanität Wiens ins Auge faßt, tut gut, sich zu erinnern: Da leben einige, sehr verschieden geartete in Wien nebeneinander, gegeneinander, in turbulenten Festivitäten auch durcheinander.
Wiens Patriziat wurde von der Gegenreformation liquidiert und ausgetrieben.
Die Urbanität (...) auf 1914 zu, und noch nach 1914, ist eine sehr prekäre, sehr heikle, sehr labile Sache; sie beschränkt sich notgedrungen auf jene jüdisch-bürgerliche Gesellschaft, deren Söhne und Töchter, alle aus gutem Hause, den Kompost, das Substrat, den Lebensraum dieser Humanität bilden, und sucht sich einzuwurzeln und zu behaupten "im weiten Land".
Es gab in Wien bis 1933, ja bis zum März 1938, durchaus eine spezifische Wiener Urbanität, nur war diese eminent gefährdet, von allem Anfang an, da sie notgedrungen gesellschaftlich auf schmale Gruppen beschränkt und politisch nicht gesichert, ja nicht einmal abgesichert war.

Urbanität ist heute und morgen zu bilden in Menschen und von Menschen, die Urbanität nicht von Haus aus mitbekommen.
Das sichtbarste Zeichen von Nicht-Urbanität ist die Spracharmut: der dürftige Sprachschatz, über den heutige Wiener verfügen. Wenn sie den Mund auftun, weiß man schon, wieviel es geschlagen hat.
Urbanität des Weltstädters ist dies: eine innere Leichtigkeit, fremde Zungen zu verstehen, die Fähigkeit, auf sehr andere Menschen hin zu hören. Innere Mehrsprachigkeit ist eine untrügliche Voraussetzung für echte Urbanität.

Die Ungastlichkeit vieler Städte, die bedeutende Einwohnermassen besitzen und verwalten, ist das sichtbarste Zeichen der Nicht-Urbanität.
Die urbane Stadt, täglich neu-gebildet durch ihre urbanen Bewohner, ist Gast-Raum: Sie nimmt Fremde auf und macht sie in oft erstaunlich kurzer Zeit zu Einheimischen.

Die urbane Stadt, der urbane Mensch assimiliert ständig, ganz unbewußt fast, andere Menschen, andere, fremde Elemente: Urbanität ist Osmose, ist ständiges Ein- und Ausatmen von sehr fremden Menschen, von sehr andersfärbigen, anderslautenden Elementen des sehr Menschlichen. Urbanität: Wenn es ein unausgesprochenes Glaubensbekenntnis der Urbanität gibt, dann ist es dieses: der Glaube, daß der Mensch in der urbs, in der polis, in der guten Stadt zuhause ist.

Urbanität ist nicht billig zu haben - wie der Mensch überhaupt nicht billig zu haben sein sollte -: sie fordert von der Stadt (...) und sie fordert von ihren Bewohnern, den Stadtbürgern, hohe Preise.

Die von Menschen gewünschte Demokratisierung aller urbanistischen, aller stadtplanenden Vorhaben ist nur als ein mehrdimensionaler Prozeß zu gewinnen, zu leisten: in der Urbanisierung, in einem Prozeß der Selbsterziehung oben, unten und in der Mitte, links und rechts, nach allen Seiten hin.
Eine Stadt, also Wien, kann nur urbaner werden, mitmenschlicher, menschenfreundlicher, vielstimmiger, innerlich vielfärbiger, offener, gastlicher, wenn diese Faktoren sich gegenseitig erziehen, einfordern, auch in schwieriger Konfrontation.

Die Gewinnung von Urbanität setzt also voraus: Bewußtseinsbildung, Bewußtseinsänderung in allen Bewohnern einer Stadt, die sich durch ihre Stadt betroffen fühlen: durch das, was sie heute ist, was sie gestern war, was sie morgen sein kann.

* * *

Die gefährlichste Versuchung für Amerika, lebensgefährlich auch für uns alle in Europa, ist die Versuchung, die Machtstellung wieder zu gewinnen, die seit als erste und einzige Atommacht vor den Sowjets kurzfristig zu behaupten wähnte. Diese Versuchung ist ungeheuer: sie arbeitet in den amerikanischen Politikern und Militärs, die , koste es was es wolle, Amerikas Primat wiederherstellen wollen, konkret eine Rüstungsüberlegenheit, eine Supermacht im Overkill, im Übertöten der Sowjetunion. Gegen diese Versuchung kämpfen heute die besten, die intelligentesten, die geistig wachsten Menschen in Amerikan an, erstmalig in der Geschichte Amerikas auch von Kirchenführungen unterstützt, die noch vor wenigen jahren eine Atombombentheologie und härtesten amerikanischen Chauvinismus vertraten.
Aus: Der notwendige Konflikt Europa-Amerika. Raidobeitrag, Österreich 1, 24.05.1983

Das oben angeführte Zitat gibt anlass zur Reflexion, was ein Friedrich Heer heute über die "erfolgreiche" unilaterlae Politik der USA sagte, wie er die Kriege der allein verbliebenen Supermacht bewertete. Der "grossen Versuchung", vor der er warnte, ist programmatisch und zielstrebig nachgegeben worden; und es wird noch ärger kommen, entsprechend der Logik dieser Art von Politik und dem ihm zugrundeliegendem Werteverständnis.

Das große Spiel (= die dritte Kraft, der europäische Humanismus): erst heute sehen wir, worum es damals, in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts im letzten ging. Um die Bildung Europas als einer pluralistischen Gesellschaft, einer Lebensgemeinschaft von Menschen, die sehr verschiedenen Lebensformen und Weltanshauungen verbunden waren. Die eine große Aufgabe, die der Einen Menschheit heute gestellt ist, nämlich ein Zusammenleben sehr gegnerischer und konträrer Lebensformen, wurde damals zum ersten Male im großen Maßstabe exemplarsich versucht.
Aus: Die dritte Kraft. Der europäische Humanismus zwischen den Fronten des konfessionellen Zeitalters. Fischer, Frankfurt/M. 1959

Die Kälte der Schweigenden: Es gibt eine Gefährlichkeit jener harten Typen, die in den meisten Staaten in Führungspositionen sitzen, vor allem auch in Führungspositionen der Wirtschaft, die irgendwie ewig-gestrig sind, antihuman ihre Interessen vertreten; große Haifische, große Wölfe, Menschen, die sich in Führungsgruppen in nahezu allen Staaten befinden. Dann gibt es etwas, was ich als die Gefährlichkeit der "schweigenden Mehrheit" ansprechen möchte...
Aus: Friedrich Heer: Antworten zur Zeit. 6. Teil: Von der Hitze und der Kälte. Radiobeitrag, gestaltet von Michael Schrott (August 1983)


    Ich las von Heer erst in den Siebzigerjahren. Seit 1976 lebe ich (mit Unterbrechungen durch Auslandsaufenthalte) in Wien. Die Sätze Heers verstand ich damals "sofort". Durch Studieren, Arbeiten, Leben auch in US-amerikanischen und anderen europäischen Städten vermochte und vermag ich seine Überlegungen, auch heute, weiterzuführen, komplex zu deuten. Er war ein liberaler Urbaner, obwohl Katholik (für mich ist das nach wie vor eine Ungereimtheit).
    Seine Auffassung war eine offene: Kultur ist keine Einbahnstrasse, Dialog setzt Intention, Absicht und Vollzug beider Parteien voraus. Jede und jeder ist angehalten aktiv zu sein, bei sich, mit anderen.

    Seit einigen Jahren scheint dies vergessen. Es wird ein Opferkult gepflegt. Beurfshelfern fällt nichts Negatives auf, wenn Ausländer, die schon 20 und mehr Jahre in Wien oder sonstwo in Österreich leben, nicht Deutsch sprechen und einen Dolmetsch brauchen. Es kommt ihnen nicht in den Sinn nachzufragen, weshalb die oder der aus dem Ausland, dem anderen Sprachraum Kommende, nicht Deutsch lernte, wie sich diese Person vorstellt, je erfolgreich kommunizieren zu können?
    Auf der Universität war und bin ich als Lehrender oft mit einer eigenartigen "Toleranz" konfrontiert: man solle doch den Nichtdeutschsprachigen die geringen Sprachkenntnisse nachsehen. Man rede Englisch oder Französisch. Kultur als Einbahnstrasse: man solle sich einsetzen, hineinversetzen - aber man erwarte das nicht vom anderen, der tut sich schwer, das darf man nicht erwarten.... Ob solche Personen je etwas von unserer Kultur erfahren, lernen? -
    Ich jedenfalls fand in den Anforderungen der amerikanischen Universität an meine englischen Sprachkenntnisse keinen Affront, es schien und scheint mir logisch.
    Das Problem ist nur eines unter vielen, taugt aber als exemplarisches Symptom. Denn Ähnliches geschieht auf dem Bereich von anderen Kulturtechniken und -werten. Wir leben in Zeiten, wo das gemeinsame Gespräch nicht gesucht wird, wo Verwalter, Helfer, Manager, "Sozialarbeiter" einen "Job" gefunden haben "zu übrersetzen". Das finde ich alles andere als emanzipatorisch. Doch Emanzipation ist Grundvoraussetzung für Freiheit und Würde.

    Freiheit und Würde sind gerade gegenwärtig in vieler, wenn nicht aller Munde. Wir hören und sehen, wie Anwälte der Mitmenschlichkeit Gespräche verweigern, einer strengen Klassifizierung folgend verurteilen und eine Kultur der Vor- und Nachurteile errichten, die das Gespräch abbricht bzw. dort, wo es noch gar nicht begann, verhindert. Neu ist, dass dies unter dem Mantel der Verteidigung der Menschenrechte, der Würde, der Freiheit geschieht.

    Das erstaunt mich dann, wenn ich den Katholiken Heer lese ("Abendrot und Morgenröte", "Offener Humanismus" oder "Warum gibt es kein Geistesleben in Deutschland?") und seine offene Sprache, seine Denkkühnheit sehe und höre und mir die Floskeln, Slogans, Kurzsprechsätze und Schreie der Antirassisten und Freiheitsverteidiger anhöre: wie reduziert, wie hassend, wie kläffend, wie angstvoll-verzerrt, wie ideologisch rigide ausgerichtet, ja wie propagandistisch äussern sich da Mitmenschen?

    Heer wurde, wie viele andere seines Schlages, in Wien eigentlich nie gemocht. In akademischen Kreisen rümpfte man die Nase über diesen Kollgen; er war nicht wissenschaftlich genug. Den Katholiken war er zu modern, zu kritisch; den "Linken" zu konservativ. Beide Gruppen vermochten nicht in einen Dialog einzutreten, wie er für eine offene Kultur selbstverständlich wäre.

    Heute, unter dem Druck einer forcierten Sakralisierung, werden neue Tabufelder errichtet, wird stigmatisiert, vorausverurteilt, einseitig moralisiert. Es werden keine Gespräche geführt, keine Dialoge. Man lebt, wie ehedem, nebeneinander oder, ganz aktuell, gegeneinander. Kein Fortschritt.


Eintrag über Friedrich Heer im Österreich-Lexikon: http://www.aeiou.at/aeiou.encyclop.h/h334020.htm

Eintrag im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon

Friedrich Heer: Demokratie und Denunziation (Gewerkschaftliche Monatshefte, Ausgabe 1/1960)

Friedrich Heer: Abschied von Höllen und Himmeln – Vom Ende des religiösen Tertiär (Buchanzeige/Rezension)

Friedrich Heer: Gottes erste Liebe – Die Juden im Spannungsfeld der Geschichte (Buchanzeige/Rezension)

FRIEDRICH HEER: Meister Eckhart (Voller Text in deutsch auf der Meister Eckhart site of EPOPTEIA)

Friedrich Heer unterzeichnet APPEAL FOR PEACE IN THE MIDDLE EAST (This call is being published simultaneously in different countries. Those who support it and want to add their signature should write to: Appeal for Peace in the Middle East, 15 rue des Minimes, 75003 Paris, France), der auch in der New York Review of Books erschien (Volume 20, Number 10 · June 14, 1973).

Adolf Gaisbauer: Friedrich Heer (1916-1983). Eine Bibliographie. Im Textteil gekürzte Fassung der 1990 bei Böhlau (Wien) erstmals erschienen Bibliographie in elektronischer Form. Wien 2003 (pdf)

Karl-Markus Gauss: "Die Wunde Österreich - Friedrich Heer". In: ders., Ins unentdeckte Österreich. Wien 1998:151-160

Sich wohltuend vom üblichen geschwätzigen Ton abhebende Äusserungen zu und über Friedrich Heer im generell lesenswerten Österreichbuch des Autors.

Hans Hautmann: Friedrich Heers "Kampf um die österreichische Identität". Mitteilungen der Alfred Klahr Gesellschaft, Nr. 3/1996

Kurzrezension von Friedrich Heer: Gottes erste Liebe – Die Juden im Spannungsfeld der Geschichte (Der Humanist)

Alfred Pfabigan rezensiert Wolfgang Ferdinand Müllers: Die Vision des Christlichen bei Friedrich Heer. (Literaturhaus 2002)

Rezension von Ulrich Winkler: Friedrich Heer mahnt die Christen zur weltoffenen Gestaltung der pluralen Gesellschaft. Eine neue Studie von Wolfgang F. Müller. (SN 2002)