Welches Wissen? Welche Gesellschaft? - Einleitung:
Thesen
1. Wissen spielt im gesellschaftlichen Produktionsprozess
bereits die bei weitem wichtigste Rolle. Es ist die entscheidende
Produktionskraft. Es ist dazu bestimmt, sowohl einfache manuelle Arbeit
als auch Finanz- und Sachkapital zu subalternen Produktivkräften herabzusetzen.
2. Die gegenwärtige Entwicklung weist auf eine zukünftig
mögliche Wissensgesellschaft hin, ist aber noch weit davon entfernt,
deren Möglichkeit zu verwirklichen. Was bereits heute viele für eine
Wissensgesellschaft halten, welche die Gesetze der kapitalistischen
Ökonomie außer Kraft setzt, ist bloß die provisorische Form eines
Kapitalismus, der Wissen als Eigentum privater Firmen behandelt und
wie Sachkapital verwertet.
3. Zum Übergang in eine Wissensgesellschaft wird
es erst kommen können, wenn die Gesellschaft Wissen nicht als Fachwissen
behandelt, sondern als Komponente einer Kultur, in der die Entwicklung
der menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen das entscheidende Ziel
ist. Es liegt im Wesen von Wissen, ein gesellschaftliches Gemeingut
zu sein und im Wesen einer Wissensgesellschaft, sich als Kulturgesellschaft
zu verstehen.
4. Wissen gehört zur Kultur, ist in sie eingebettet,
wirkt auf sie zurück und umgekehrt. Beide entwickeln sich im universellen
Austausch und Verkehr. Eine Wissens- oder Kulturgesellschaft erfordert,
dass allen der bedingungslose Zugang zum gesamten Wissen sowie die
Teilhabe an den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften
gesichert ist. "Wissen ist nicht dazu geeignet, als exklusives
Eigentum behandelt zu werden" ("is not susceptible to exclusive
property") sagte schon Thomas Jefferson. Der Sinn für und die
Pflege von Gemeingut müssen folglich in einer Wissensgesellschaft
gegenüber Privateigentum und Warenbeziehungen überwiegen. Ebenso wenig
wie Wissen ist die Natur dazu geeignet, zum Zweck ihrer Vergeldlichung
privatisiert, instrumentalisiert und vergewaltigt zu werden. Wissen
darf nicht auf kognitiv-instrumentelle technowissenschaftliche Kenntnisse
reduziert werden.
5. Die Kolonialisierung und Instrumentalisierung
von "freier Zeit" wirkt einer Entwicklung entgegen, die
die diversen Dimensionen von "Wissen" in eine umfassende
Kultur einbetten und zur allseitigen Entfaltung der Individuen beitragen
könnte. Der "totalitäre Freizeitkapitalismus" bringt Individualitäten
hervor, deren technisch-wissenschaftliche Bildung die Unbildung auf
allen anderen Gebieten mit sich zieht. Er bewirkt den Verfall von
Formen der Alltagskultur in denen "Wissen" als Gemeingut
gesellschaftliche Beziehungen jenseits von Kauf- und Verkaufsbeziehungen
beleben könnte. Kurz, er verhindert das Entstehen einer Wissensgesellschaft.
6. Für uns sind mittlerweile die Entwicklungs- und
Aneignungsmöglichkeiten von "Wissen" viel komplexere politische
Fragen geworden als sie es für Marx waren. Für uns ist die Annahme
geradezu naiv, dass das Kapital die Entwicklung von "Wissen"
als wichtigste Produktivkraft zulassen könnte, ohne selbst für die
Aneignung von und die Herrschaft über "Wissen" zu sorgen.
Das Wesen von Wissen, seine Inhalte, seine Verbreitung, seine Beziehung
zur unmittelbaren Arbeit sind zentrale Konfliktstoffe geworden, in
denen die Orientierung der gesellschaftlichen Entwicklung auf dem
Spiel steht.
7. Das Verhältnis von Erziehungs- und Unterrichtspolitik,
die Methoden und die Ziele, die ihr gesetzt sind, sind ein brisanter
sozialpolitischer Konfliktstoff und eines der wichtigsten Themen der
ökosozialen Modernisierung. Was hier auf dem Spiel steht, ist die
Muße-, Lern- und Selbsttätigkeitsfähigkeit, die Entfaltung neuartiger
sozialer Beziehungen jenseits der Waren- und Geldbeziehungen. Angesichts
der fortschreitenden Verkürzung der Lebensarbeitszeit hängt die Lebensqualität
immer stärker ab von den um ihrer selbst willen entfalteten Fähigkeiten
und Aktivitäten.
8. Die Komplementarität von vielseitiger Bildung
und unmittelbar produktivem Wissen ist im sich vollziehenden technologischen
Wandel wie vorprogrammiert. Das sich verwandelnde Kapital eröffnet
die Aussicht auf eine Wissens- und Kulturgesellschaft, begrenzt aber
zugleich deren Entwicklung. Widersprüchlichkeiten dieser Art sind
nichts Neues. Neu allerdings ist diese Aussicht selbst - ist die im
Wesen des "Wissens" enthaltene Möglichkeit grundlegend neuer
sozialer Verhältnisse jenseits von Waren- und Lohnbeziehungen.
9. Die Produktivität der Unternehmen hängt weitgehend
von den kooperativen und kommunikativen Kompetenzen der Akteure ab,
ihrer Fähigkeit, eine Situation zu überblicken, schnell zu urteilen
und zu entscheiden, für neue Ideen offen zu sein, neue Kenntnisse
zu erwerben. Die Produktion und Produktivität beruhen auf "Leistungen",
die nicht mehr mit dem Maßstab der Arbeitszeit messbar sind. Sie mobilisieren
ein "Wissen", das sowohl aus Fachkenntnissen als auch aus
informellen persönlichen Fähigkeiten besteht. Diese Fähigkeiten lassen
sich nicht in Ausbildungskursen erwerben. Man erwirbt sie vielmehr
in spielerischen, künstlerischen, sportlichen Aktivitäten vor und
außerhalb der Arbeit und entwickelt sie dann innerhalb der Arbeit
weiter. Es kommt immer öfter zu einer Synergie zwischen Arbeit und
persönlicher Entwicklung. Die Produktivität der unmittelbar produktiven
Arbeit hängt von der Entfaltung persönlicher Fähigkeiten ab, d.h.
von der "Selbstentwicklungsarbeit", die eine Person als
Selbstzweck übt.
10. Sobald die unmittelbare Arbeit von Fähigkeiten
abhängt, deren Entwicklung und Weiterentwicklung mehr Zeit benötigt
als die unmittelbare Arbeit selbst, entsteht zwischen der subjektiven
Realität der Arbeit und dem kapitalistischen Verwertungszwang eine
Spannung, in der der ursprüngliche Gegensatz von lebendiger Arbeit
und Kapital sich in neuen Weisen wieder ausdrückt. Die Forderung,
ja das Bedürfnis nach einem nicht mehr an der unmittelbaren Arbeitszeit
bemessenen Einkommen ist bereits heute sehr plausibel.
Der vollständige Text ist Bestandteil der Kongressunterlagen:
http://www.bildung2010.de/gutzuwissen/thesen/thesen_gorz.html
Wir müssen die Veränderungen offensiv ergreifen.
Wir müssen den Bruch mit der sterbenden Gesellschaft wagen, sie
wird nicht mehr auferstehen. (...)
Es zwingt alle, gegen alle um die immer weniger werdende "Arbeit"
zu kämpfen, und stellt dadurch die schlimmsten Formen von Herrschaft,
Untewerfung und Ausbeutung wieder her.
(...)
Denn gerade "Arbeit" im Sinne von Selbstverwirklichung,
von "poiesis", der Schaffung eines WErks, verschwindet in
den virtualisierten Realitäten der immateriellen Ökonomie
am schnellsten.
(...)
Im Prinzip (aber eben nur im Prinzip) hätten die Massenabschaffung
von "Arbeit", ihre postfordistische Entstandardisierung,
die Entstaatlichung und Entbürokratisierung der sozialen Absicherungen
dazu führen können, Freiräume für eine Fülle
von selbstorganisierten Netzwerken der Selbsthilfe und der Selbsttätigkeit
zu eröffnen. Diese Befreiung de Arbeit und diese Ausweitung des
öffentlichen Raumes haben aber nicht stattgefunden.
(...)
Die postfordistische Abkehr von der Standardisierung und Massenfertigung
sowie die Entbürokratisierung verfolgten jedoch das genau entgegengesetzte
Ziel. An die Stelle der vom Sozialstaat verfügten Gesetze sollten
die anonymen "Gesetze" des Marktes treten, und das uneingeschränkte
Spiel dieser "Gesetze" sollte das Kapital gegen die politische
Macht schützen.
(...)
Gleichzeitig aber sollte die "Arbeit" die Basis gesellschaftlicher
Zugehörigkeit und sozialer Rechte, des Selbstwertgefühls
und der Achtung durch andere bleiben.
(...)
So breiteten sich die Lebensbedingungen der "Dritten Welt"
auch in der "Ersten Welt" aus.
(...)
Und so gelingt es diesem Kapital, zunehmenden Reichtum mit immer weniger
Arbeit zu erzeugen, immer weniger Löhne und immer weniger (ja
teilweise sogar überhaupt keine) Steuern auf die Gewinne zu zahlen
und sich damit weder an der Finanzierung der durch die Produktion
verursachten Sozial- und Umweltkosten mehr zu beteiligen noch an den
Kosten der Infrastruktur, auf die die Produktion angewiesen ist.
Soe geriet die materielle und kulturelle Reproduktion der Gesellschaften
in die Krise, und auf allen Kontinenten breiten sich Anomie und Barbarei
aus, verschleierte oder offene Bürgerkriege, Furcht vor einem
Zusammenbrechen der Zivilisation und einer Imlosion der von den Finanzmärkten
dominierten Weltwirtschaft, in der Geld Geld durch den alleinigen
Kauf und Verkauf von Geld selbst einträgt. Geld ist zu einem
die produktiven Wirtschaftssektoren aussaugenden Parasiten geworden
und das Kapital zu einem Räuber, der die Gesellschaft plündert.
Beide lösen sich auf Grund der globalen Ausbreitung des
keinen Regeln und Einschränkungen unterliegenden Marktes von
den Staaten und Gesellschaften ab und ersetzen die nationalstaatlich
verfaßten Gesellschaften durch die absolute Gesellschaftslosigkeit
und die Nationalstaaten durch einen "virtuellen" Staat ohne
Territorium, Grenzen, Entfernungen und ohne Bürger, kurz, durch
den Weltstaat im Dienste eines absolutistischen Herrschers, nämlich
den des Geldes. Und also gelangt das Kapital an sein Ziel: Es ist
absolute, ungeteilte und uneingeschränkte Macht. Losgelöst
von Lebenswirklichkeit und erfahrbarer Realität, ersetzt es die
menschliche Urteilskraft durch den kategorischen Imperativ seines
ständigen Wachstums und entzieht seine Macht dem menschlichen
Zugriff: Das Kapital hat seinen Exodus erfolgreich betrieben.
(...)
Der postfordistische Kapitalismus macht sich Stalins Motto, "Der
Mensch ist das wertvollste Kapital", zu eigen. Er wird in den
Produktionsprozeß als "menschliche Ressource", als
"Humankapital", als humanes fixes Kapital einbezogen.
Seine spezifisch menschlichen Fähigkeiten werden mit dem unpersönlichen
Maschinenwissen zu ein und demselben System verschmolzen. Er wird
ganz bis in sein Subjekt-Sein hinein Cyborg und Produktionsmittel,
also zugleich Kapital, Ware und Arbeit. Und insoweit seine Fähigkeiten
im Verwertungsprozeß des Geldkapitals nicht gefragt sind, wird
er zurückgewiesen, ausgeschlossen, als nicht existent betrachtet.
Das wertvollste Kapital ist der Mensch nur dann, wenn er als Kapital
fungieren kann.
Zitiert aus der Einleitung (dt. Ausgabe, Seiten
9-16) von "Arbeit zwischen Misere und Utopie" von André
Gorz
Ulrike
Baureithel
Bilderhimmel befreiter Existenz
Freitag 13 24. März 2000
Rezension
von André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie
Die
konkreten, keineswegs neuen "Auswege" und Modelle, die Gorz nun vorstellt,
kompromittieren sich nicht etwa, weil sie nicht finanzierbar wären:
Eine geringfügige Steuer auf Spekulationsgeschäfte etwa, wie sie der
Nobelpreisträger für Wirtschaft, James Tobin, vorgeschlagen hat, wäre
nicht nur imstande, den Turbo-Kapitalismus etwas abzubremsen, sondern
würde den Staaten jährlich dreistellige Milliardenbeträge in die Kassen
spülen, aus denen sich beispielsweise die Grundsicherung finanzieren
ließe.
Ein
viel grundsätzlicheres Problem liegt in der unhinterfragten"positiven
Anthropologie": Gorz setzt nämlich ein Arbeitssubjekt voraus, das
fähig und willens ist, selbstbestimmt zu arbeiten. Doch eben diese
Fähigkeiten treibt das konkrete Leben unter kapitalistischen Bedingungen
aus. So bewegt sich Gorz in einem Zirkelschluss, indem er voraussetzt,
was sich erst entwickeln soll. In seiner Auseinandersetzung mit dem
französischen Soziologen Alain Touraine im Anhang des Buches scheint
diese Einsicht auch bei Gorz auf: Das Subjekt der Freiheit, parapharasiert
er Touraine, sei von der Rationalisierung, die es gegen eine erstickende
Sozialisierung schützt, ebenso wenig zu trennen, wie von der kulturellen
Verwurzelung, durch die es sich nicht auf einen manipulierten Konsumenten
oder einen leistungsstarken Produzenten reduzieren läßt. Doch wie
dieses "Subjekt der Kritik" zu sich selbst kommt und wie es sich in
den Zwangsgemeinschaften alternativer Interaktionsnetze behauptet,
kann auch Gorz nicht beanworten, denn sein Messianismus ist auf "Gemeinschaft"
angewiesen.
Lesen Sie
die ganze Rezension im FREITAG: http://www.freitag.de
Gespräch
mit André Gorz
"Die verwendete Zeit wird nicht mehr die Zeit der Verwendung
sein"
André
Gorz: Welches Wissen? Welche Gesellschaft?
Erich Ribolits: Rezension: Gorz, André:
Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie
Andreas Schaarschuch
Spaltung
der Gesellschaft und soziale Bürgerrechte
Widersprüche, Heft 54: Umbau des Sozialstaats: "Treffen
der Generationen"
Was tun am Feierabend
Die
Arbeitsgesellschaft hat frei. André Gorz schlägt Reformen
vor. Jost Müller nimmt die Modernisierungstheorie auseinander.
Von Thomas Atzert, Jungle World, 2.8.2000
Michael Jäger
Abschied
vom Proletariat - Abschied vom Menschen
NEUE BüCHER VON ANDRé GORZ Was geschieht in der "Wissensgesellschaft"?
Freitag 12, 24.3.2006
André
Gorz - Wiki-Eintrag deutsch
André
Gorz - Wiki-Eintrag französisch
Nachrufe:
Abschied
von Gorz.
Martin Kempe, TAZ 26.9.2007
André Gorz: Der
Verabschieder des Proletariats
Martin Kempe, TAZ 26.9.2007
In
Liebe in den Freitod
Christian Semler, TAZ 26.9.2007
André Gorz: Ein
Sozialist auf freiem Fuße
Christian Semler, TAZ 26.9.2007
Freitod
eines Freidenkers
Spiegel, 25.9.2007
Zum
Tode von André Gorz
Der Weg ins Freie. Arno Widmann
Frankfurter Rundschau, 25.9.2007
Gemeinsam
in den Tod. Dei Freiheit wählen.
Von Gregor Dotzauer, Der Tagesspiegel 26.09.2007 00:00 Uhr
Nicht
mehr dabei
Selbstbestimmt romantisch: Abschied von André Gorz
Junge Welt, 26.9.2007
Vordenker
der postindustriellen Gesellschaft
Zum Tod von André Gorz
Von Winfried Sträter
Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 25.9.07
Wege
ins Paradies
Zum Freitod des französischen Sozialphilosophen und Publizisten
André Gorz
Moderation: Beatrix Novy
Deutschlandfunk, Kultur heute, 25.9.07
Arbeit
jenseits klassischer Erwerbsarbeit
Politikwissenschaftler Peter Grottian würdigt verstorbenen Philosophen
André Gorz
Moderation: Dieter Kassel
Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 25.9.07
Eine
große Liebe
Von Marko Martin, Die Welt, 26.9.2007
Ulrike Baureithel
Arbeit
am Exodus
NACHRUF Zum Tod von André und Dorine Gorz
Freitag 39, 28.9.2007