Zitate von André Gorz

(Febr. 1923 - 24.9.2007)

Dr. André Gorz, geboren 1923 in Wien, lebte seit 1949 als Schriftsteller und Philosoph in Frankreich.
Veröffentlichungen in deutscher Übersetzung (Auswahl): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt/M. 2000:Suhrkamp; Kritik der ökonomischen Vernunft. Sinnfragen am Ende der Arbeitsgesellschaft, Hamburg 1994: Rotbuch; Wege ins Reich der Freiheit, Hamburg 1989: Rotbuch, Wissen, WErt und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie. Rotpunktverlag 2004

André Gorz hat mit seiner Gattin Dorine in ihrem Haus in Vosnon am 24.9.2007 gemeinsam den Freitod gewählt. Verweise auf Nachrufe am Ende dieser Seite.



Welches Wissen? Welche Gesellschaft? - Einleitung: Thesen

1. Wissen spielt im gesellschaftlichen Produktionsprozess bereits die bei weitem wichtigste Rolle. Es ist die entscheidende Produktionskraft. Es ist dazu bestimmt, sowohl einfache manuelle Arbeit als auch Finanz- und Sachkapital zu subalternen Produktivkräften herabzusetzen.

2. Die gegenwärtige Entwicklung weist auf eine zukünftig mögliche Wissensgesellschaft hin, ist aber noch weit davon entfernt, deren Möglichkeit zu verwirklichen. Was bereits heute viele für eine Wissensgesellschaft halten, welche die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie außer Kraft setzt, ist bloß die provisorische Form eines Kapitalismus, der Wissen als Eigentum privater Firmen behandelt und wie Sachkapital verwertet.

3. Zum Übergang in eine Wissensgesellschaft wird es erst kommen können, wenn die Gesellschaft Wissen nicht als Fachwissen behandelt, sondern als Komponente einer Kultur, in der die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen das entscheidende Ziel ist. Es liegt im Wesen von Wissen, ein gesellschaftliches Gemeingut zu sein und im Wesen einer Wissensgesellschaft, sich als Kulturgesellschaft zu verstehen.

4. Wissen gehört zur Kultur, ist in sie eingebettet, wirkt auf sie zurück und umgekehrt. Beide entwickeln sich im universellen Austausch und Verkehr. Eine Wissens- oder Kulturgesellschaft erfordert, dass allen der bedingungslose Zugang zum gesamten Wissen sowie die Teilhabe an den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften gesichert ist. "Wissen ist nicht dazu geeignet, als exklusives Eigentum behandelt zu werden" ("is not susceptible to exclusive property") sagte schon Thomas Jefferson. Der Sinn für und die Pflege von Gemeingut müssen folglich in einer Wissensgesellschaft gegenüber Privateigentum und Warenbeziehungen überwiegen. Ebenso wenig wie Wissen ist die Natur dazu geeignet, zum Zweck ihrer Vergeldlichung privatisiert, instrumentalisiert und vergewaltigt zu werden. Wissen darf nicht auf kognitiv-instrumentelle technowissenschaftliche Kenntnisse reduziert werden.

5. Die Kolonialisierung und Instrumentalisierung von "freier Zeit" wirkt einer Entwicklung entgegen, die die diversen Dimensionen von "Wissen" in eine umfassende Kultur einbetten und zur allseitigen Entfaltung der Individuen beitragen könnte. Der "totalitäre Freizeitkapitalismus" bringt Individualitäten hervor, deren technisch-wissenschaftliche Bildung die Unbildung auf allen anderen Gebieten mit sich zieht. Er bewirkt den Verfall von Formen der Alltagskultur in denen "Wissen" als Gemeingut gesellschaftliche Beziehungen jenseits von Kauf- und Verkaufsbeziehungen beleben könnte. Kurz, er verhindert das Entstehen einer Wissensgesellschaft.

6. Für uns sind mittlerweile die Entwicklungs- und Aneignungsmöglichkeiten von "Wissen" viel komplexere politische Fragen geworden als sie es für Marx waren. Für uns ist die Annahme geradezu naiv, dass das Kapital die Entwicklung von "Wissen" als wichtigste Produktivkraft zulassen könnte, ohne selbst für die Aneignung von und die Herrschaft über "Wissen" zu sorgen. Das Wesen von Wissen, seine Inhalte, seine Verbreitung, seine Beziehung zur unmittelbaren Arbeit sind zentrale Konfliktstoffe geworden, in denen die Orientierung der gesellschaftlichen Entwicklung auf dem Spiel steht.

7. Das Verhältnis von Erziehungs- und Unterrichtspolitik, die Methoden und die Ziele, die ihr gesetzt sind, sind ein brisanter sozialpolitischer Konfliktstoff und eines der wichtigsten Themen der ökosozialen Modernisierung. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Muße-, Lern- und Selbsttätigkeitsfähigkeit, die Entfaltung neuartiger sozialer Beziehungen jenseits der Waren- und Geldbeziehungen. Angesichts der fortschreitenden Verkürzung der Lebensarbeitszeit hängt die Lebensqualität immer stärker ab von den um ihrer selbst willen entfalteten Fähigkeiten und Aktivitäten.

8. Die Komplementarität von vielseitiger Bildung und unmittelbar produktivem Wissen ist im sich vollziehenden technologischen Wandel wie vorprogrammiert. Das sich verwandelnde Kapital eröffnet die Aussicht auf eine Wissens- und Kulturgesellschaft, begrenzt aber zugleich deren Entwicklung. Widersprüchlichkeiten dieser Art sind nichts Neues. Neu allerdings ist diese Aussicht selbst - ist die im Wesen des "Wissens" enthaltene Möglichkeit grundlegend neuer sozialer Verhältnisse jenseits von Waren- und Lohnbeziehungen.

9. Die Produktivität der Unternehmen hängt weitgehend von den kooperativen und kommunikativen Kompetenzen der Akteure ab, ihrer Fähigkeit, eine Situation zu überblicken, schnell zu urteilen und zu entscheiden, für neue Ideen offen zu sein, neue Kenntnisse zu erwerben. Die Produktion und Produktivität beruhen auf "Leistungen", die nicht mehr mit dem Maßstab der Arbeitszeit messbar sind. Sie mobilisieren ein "Wissen", das sowohl aus Fachkenntnissen als auch aus informellen persönlichen Fähigkeiten besteht. Diese Fähigkeiten lassen sich nicht in Ausbildungskursen erwerben. Man erwirbt sie vielmehr in spielerischen, künstlerischen, sportlichen Aktivitäten vor und außerhalb der Arbeit und entwickelt sie dann innerhalb der Arbeit weiter. Es kommt immer öfter zu einer Synergie zwischen Arbeit und persönlicher Entwicklung. Die Produktivität der unmittelbar produktiven Arbeit hängt von der Entfaltung persönlicher Fähigkeiten ab, d.h. von der "Selbstentwicklungsarbeit", die eine Person als Selbstzweck übt.

10. Sobald die unmittelbare Arbeit von Fähigkeiten abhängt, deren Entwicklung und Weiterentwicklung mehr Zeit benötigt als die unmittelbare Arbeit selbst, entsteht zwischen der subjektiven Realität der Arbeit und dem kapitalistischen Verwertungszwang eine Spannung, in der der ursprüngliche Gegensatz von lebendiger Arbeit und Kapital sich in neuen Weisen wieder ausdrückt. Die Forderung, ja das Bedürfnis nach einem nicht mehr an der unmittelbaren Arbeitszeit bemessenen Einkommen ist bereits heute sehr plausibel.

Der vollständige Text ist Bestandteil der Kongressunterlagen:
http://www.bildung2010.de/gutzuwissen/thesen/thesen_gorz.html


Wir müssen die Veränderungen offensiv ergreifen. Wir müssen den Bruch mit der sterbenden Gesellschaft wagen, sie wird nicht mehr auferstehen. (...)
Es zwingt alle, gegen alle um die immer weniger werdende "Arbeit" zu kämpfen, und stellt dadurch die schlimmsten Formen von Herrschaft, Untewerfung und Ausbeutung wieder her. (...)
Denn gerade "Arbeit" im Sinne von Selbstverwirklichung, von "poiesis", der Schaffung eines WErks, verschwindet in den virtualisierten Realitäten der immateriellen Ökonomie am schnellsten. (...)
Im Prinzip (aber eben nur im Prinzip) hätten die Massenabschaffung von "Arbeit", ihre postfordistische Entstandardisierung, die Entstaatlichung und Entbürokratisierung der sozialen Absicherungen dazu führen können, Freiräume für eine Fülle von selbstorganisierten Netzwerken der Selbsthilfe und der Selbsttätigkeit zu eröffnen. Diese Befreiung de Arbeit und diese Ausweitung des öffentlichen Raumes haben aber nicht stattgefunden. (...)
Die postfordistische Abkehr von der Standardisierung und Massenfertigung sowie die Entbürokratisierung verfolgten jedoch das genau entgegengesetzte Ziel. An die Stelle der vom Sozialstaat verfügten Gesetze sollten die anonymen "Gesetze" des Marktes treten, und das uneingeschränkte Spiel dieser "Gesetze" sollte das Kapital gegen die politische Macht schützen. (...)
Gleichzeitig aber sollte die "Arbeit" die Basis gesellschaftlicher Zugehörigkeit und sozialer Rechte, des Selbstwertgefühls und der Achtung durch andere bleiben. (...)
So breiteten sich die Lebensbedingungen der "Dritten Welt" auch in der "Ersten Welt" aus. (...)
Und so gelingt es diesem Kapital, zunehmenden Reichtum mit immer weniger Arbeit zu erzeugen, immer weniger Löhne und immer weniger (ja teilweise sogar überhaupt keine) Steuern auf die Gewinne zu zahlen und sich damit weder an der Finanzierung der durch die Produktion verursachten Sozial- und Umweltkosten mehr zu beteiligen noch an den Kosten der Infrastruktur, auf die die Produktion angewiesen ist.
Soe geriet die materielle und kulturelle Reproduktion der Gesellschaften in die Krise, und auf allen Kontinenten breiten sich Anomie und Barbarei aus, verschleierte oder offene Bürgerkriege, Furcht vor einem Zusammenbrechen der Zivilisation und einer Imlosion der von den Finanzmärkten dominierten Weltwirtschaft, in der Geld Geld durch den alleinigen Kauf und Verkauf von Geld selbst einträgt. Geld ist zu einem die produktiven Wirtschaftssektoren aussaugenden Parasiten geworden und das Kapital zu einem Räuber, der die Gesellschaft plündert. Beide lösen sich auf Grund der globalen Ausbreitung des keinen Regeln und Einschränkungen unterliegenden Marktes von den Staaten und Gesellschaften ab und ersetzen die nationalstaatlich verfaßten Gesellschaften durch die absolute Gesellschaftslosigkeit und die Nationalstaaten durch einen "virtuellen" Staat ohne Territorium, Grenzen, Entfernungen und ohne Bürger, kurz, durch den Weltstaat im Dienste eines absolutistischen Herrschers, nämlich den des Geldes. Und also gelangt das Kapital an sein Ziel: Es ist absolute, ungeteilte und uneingeschränkte Macht. Losgelöst von Lebenswirklichkeit und erfahrbarer Realität, ersetzt es die menschliche Urteilskraft durch den kategorischen Imperativ seines ständigen Wachstums und entzieht seine Macht dem menschlichen Zugriff: Das Kapital hat seinen Exodus erfolgreich betrieben. (...)

Der postfordistische Kapitalismus macht sich Stalins Motto, "Der Mensch ist das wertvollste Kapital", zu eigen. Er wird in den Produktionsprozeß als "menschliche Ressource", als "Humankapital", als humanes fixes Kapital einbezogen. Seine spezifisch menschlichen Fähigkeiten werden mit dem unpersönlichen Maschinenwissen zu ein und demselben System verschmolzen. Er wird ganz bis in sein Subjekt-Sein hinein Cyborg und Produktionsmittel, also zugleich Kapital, Ware und Arbeit. Und insoweit seine Fähigkeiten im Verwertungsprozeß des Geldkapitals nicht gefragt sind, wird er zurückgewiesen, ausgeschlossen, als nicht existent betrachtet. Das wertvollste Kapital ist der Mensch nur dann, wenn er als Kapital fungieren kann.

Zitiert aus der Einleitung (dt. Ausgabe, Seiten 9-16) von "Arbeit zwischen Misere und Utopie" von André Gorz

Ulrike Baureithel
Bilderhimmel befreiter Existenz
Freitag 13 24. März 2000

Rezension von André Gorz: Arbeit zwischen Misere und Utopie

Die konkreten, keineswegs neuen "Auswege" und Modelle, die Gorz nun vorstellt, kompromittieren sich nicht etwa, weil sie nicht finanzierbar wären: Eine geringfügige Steuer auf Spekulationsgeschäfte etwa, wie sie der Nobelpreisträger für Wirtschaft, James Tobin, vorgeschlagen hat, wäre nicht nur imstande, den Turbo-Kapitalismus etwas abzubremsen, sondern würde den Staaten jährlich dreistellige Milliardenbeträge in die Kassen spülen, aus denen sich beispielsweise die Grundsicherung finanzieren ließe.

Ein viel grundsätzlicheres Problem liegt in der unhinterfragten"positiven Anthropologie": Gorz setzt nämlich ein Arbeitssubjekt voraus, das fähig und willens ist, selbstbestimmt zu arbeiten. Doch eben diese Fähigkeiten treibt das konkrete Leben unter kapitalistischen Bedingungen aus. So bewegt sich Gorz in einem Zirkelschluss, indem er voraussetzt, was sich erst entwickeln soll. In seiner Auseinandersetzung mit dem französischen Soziologen Alain Touraine im Anhang des Buches scheint diese Einsicht auch bei Gorz auf: Das Subjekt der Freiheit, parapharasiert er Touraine, sei von der Rationalisierung, die es gegen eine erstickende Sozialisierung schützt, ebenso wenig zu trennen, wie von der kulturellen Verwurzelung, durch die es sich nicht auf einen manipulierten Konsumenten oder einen leistungsstarken Produzenten reduzieren läßt. Doch wie dieses "Subjekt der Kritik" zu sich selbst kommt und wie es sich in den Zwangsgemeinschaften alternativer Interaktionsnetze behauptet, kann auch Gorz nicht beanworten, denn sein Messianismus ist auf "Gemeinschaft" angewiesen.

Lesen Sie die ganze Rezension im FREITAG: http://www.freitag.de

Gespräch mit André Gorz
"Die verwendete Zeit wird nicht mehr die Zeit der Verwendung sein"

André Gorz: Welches Wissen? Welche Gesellschaft?

Erich Ribolits: Rezension: Gorz, André: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie

Andreas Schaarschuch
Spaltung der Gesellschaft und soziale Bürgerrechte
Widersprüche, Heft 54: Umbau des Sozialstaats: "Treffen der Generationen"

Was tun am Feierabend
Die Arbeitsgesellschaft hat frei. André Gorz schlägt Reformen vor. Jost Müller nimmt die Modernisierungstheorie auseinander.
Von Thomas Atzert, Jungle World, 2.8.2000

Michael Jäger
Abschied vom Proletariat - Abschied vom Menschen
NEUE BüCHER VON ANDRé GORZ Was geschieht in der "Wissensgesellschaft"?
Freitag 12, 24.3.2006


André Gorz - Wiki-Eintrag deutsch

André Gorz - Wiki-Eintrag französisch

Nachrufe:

Abschied von Gorz.
Martin Kempe, TAZ 26.9.2007

André Gorz: Der Verabschieder des Proletariats
Martin Kempe, TAZ 26.9.2007

In Liebe in den Freitod
Christian Semler, TAZ 26.9.2007

André Gorz: Ein Sozialist auf freiem Fuße
Christian Semler, TAZ 26.9.2007

Freitod eines Freidenkers
Spiegel, 25.9.2007

Zum Tode von André Gorz
Der Weg ins Freie. Arno Widmann
Frankfurter Rundschau, 25.9.2007

Gemeinsam in den Tod. Dei Freiheit wählen.
Von Gregor Dotzauer, Der Tagesspiegel 26.09.2007 00:00 Uhr

Nicht mehr dabei
Selbstbestimmt romantisch: Abschied von André Gorz
Junge Welt, 26.9.2007

Vordenker der postindustriellen Gesellschaft
Zum Tod von André Gorz
Von Winfried Sträter
Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 25.9.07

Wege ins Paradies
Zum Freitod des französischen Sozialphilosophen und Publizisten André Gorz
Moderation: Beatrix Novy
Deutschlandfunk, Kultur heute, 25.9.07

Arbeit jenseits klassischer Erwerbsarbeit
Politikwissenschaftler Peter Grottian würdigt verstorbenen Philosophen André Gorz
Moderation: Dieter Kassel
Deutschlandradio Kultur, Radiofeuilleton, 25.9.07

Eine große Liebe
Von Marko Martin, Die Welt, 26.9.2007

Ulrike Baureithel
Arbeit am Exodus
NACHRUF Zum Tod von André und Dorine Gorz
Freitag 39, 28.9.2007