Zitate von Luciano De Crescenzo

* 1928

Aus:
oi dialogoi. Über die Kunst, miteinander zu reden.
Aus dem Italienischen von Jürgen Bauer; Zürich, Diogenes 1987
(Originaltitel: oi dialogoi. I dialoghi di Bellavista. Milano, Mondadori 1985)

Zur Kunst:

Salvatore und Saverio gehen, neugierig geworden, weiter, und kaum haben sie die Schwelle zum nächsten Saal überschritten, sehen sie schon auf der rechten Seite ein richtig echtes Badezimmer, das an der Wand lehnt. Es fehlt wirklich nichts: Da ist eine Badewanne, ein hellblauer Vorleger, die Fliesen an der Wand, ein Mülleimer und sogar ein gelbes Handtuch.

"Tom Wesselmann: Badewanne, Collage Nr. 3", erläutert Professor Salemi mit einem gewissen Stolz. "Wesselmann ist eine herausragende Erscheinung in der amerikanischen Pop-Art. Der Künstler versteht seine Montage von dreidimensionalen Gemälden und alltäglichen Gegenständen als satirischen Angriff auf den Massenhedonismus. Er hat sich hierzu der Methode des combine painting bedient, das heißt eines Gemisches aus Malerei und Collage, das ..."

Salemi bricht, von empörten Rufen hinter seinem Rücken gestört, mitten im Satz ab. Alle drehen sich um und sehen, wie einer der Museumswärter der Villa Pignatelli wütend auf Salvatore einredet, der auf einem alten Stuhl sitzt.

"Haben Sie jetzt verstanden oder nicht, daß sie da nicht sitzen dürfen?"

Nur einen Augenblick, ich steh gleich wieder auf!, antwortet Salvatore. "Wissen Sie, ich bin einfach ein bißchen müde."

"Dann setzen Sie sich doch auf eine der Bänke am Eingang. Hier können Sie nicht hocken bleiben. Das ist ein Kunstwerk."

"Wie bitte, ein Kunstwerk?"

"Jawohl, mein Herr, ein Kunstwerk!" wiederholt der Museumswärter, jetzt noch wütender. "Sehen Sie die Kette nicht, mit der der Stuhl an dem Bild dahinter befestigt ist? Wenn Sie's nicht glauben wollen, lesen Sie mal, was hier steht!"

Salvatore dreht sich ohne aufzustehen herum und liest das Schild an der Wand:

"Robert Rauschenberg: Pilgrim, 1960. Und was heißt das?"

"Das heißt, daß Sie jetzt gefälligst aufzustehen haben!" brüllt der Museumswärter. "Es ist ein Elend mit diesen Stühlen. Jeder, der hier reinkommt, aber auch jeder, setzt sich drauf!"

"Wissen Sie, wie man das verhindern könnte? Leben Sie doch einfach ein Schild drauf", schlägt Salvatore vor. "Und auf das Schild schreiben Sie: ACHTUNG, DIES IST KEIN STUHL, SONDERN EIN KUNSTWERK!"

"Mann, Salvatò, nimm doch endlich Vernunft an!" beginnt Saverio auf ihn einzureden. "Du verstehst gar nichts, weil du nur fünf Jahre zur Schule gegangen bist, ich versteh nicht viel mehr davon, weil ich's auch nur auf acht gebracht hab, aber die da haben alle Kunstkritik studiert... lesen die "Republicca" ... Meinst du wirklich, zwei Banausen wie wir verstehen mehr davon als die ganzen gebildeten Leute, die außerdem auch noch reich sind und sich so was leisten können? Ich sag dir: Wenn so viele Studierte sagen, daß die moderne Malerei wichtig ist, dann muß einfach was Wahres dran sein, dann müssen die Maler da wirklich Künstler sein."

"Du meinst also, wenn ich studiert hätte, dann würde mir das Bild mit dem Stuhl gefallen?"

"Sicher, dann würd's dir gefallen", stellt Saverio fest, "weil du dann die Botschaft erkannt hättest, die drinsteckt."

"Die Botschaft des Stuhls?"

"Genau."

"Wenn du mich fragst, das Ding mit dem Sack hätte mir gefallen können. Aber das mit dem Stuhl, nein, nicht mal, wenn ich mein Leben lang studieren würde."

"Ach, du hast doch keine Ahnung!" ruft Saverio aus. "Benutz doch mal deinen Verstand. Glaubst du, daß in den letzten achtzig Jahren, seit es diese Art von Kunst gibt, niemand gemerkt hätte, daß das alles ein riesiger Schwindel ist? Also finden wir uns damit ab und geben zu, daß wir diejenigen sind, die es nicht verstehen."

Das Gespräch findet in der Wohnung von Professor Bellavista statt. Salvatore, Saverio und Luigino haben haarklein über ihren Rundgang durch die Ausstellung für moderne Kunst berichtet.

"Schade, daß Sie nicht dabei waren, Professore", meint -Salvatore. "Es hätte Ihnen bestimmt Spaß gemacht. Mir hat diese Ausstellung jedenfalls besser gefallen als die über die Kunst des siebzehnten Jahrhunderts, die wir uns letztes Jahr in Capodimonte angeschaut haben. Dort hat's zu viele Heilige, zu viele religiöse Bilder gegeben. War fast wie in der Kirche! Die Ausstellung heute war viel lustiger und lebendiger."

"Hören Sie nicht auf ihn, Professore", mischt sich Saverio ein. "Der hat überhaupt nichts kapiert: Ständig wollte er den Führer unterbrechen, bloß um ihn ein bißchen aufzuziehen, und der war schließlich ein ganz berühmter Professor. Wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte ..."

"Ich habe überhaupt niemanden aufziehen wollen, Professore!" beteuert Salvatore seine Unschuld. "ich wollte die Sachen nur verstehen, das ist alles. Ich möchte schrecklich gern wissen, was Sie von moderner Kunst halten."

"Na ja", beginnt Bellavista nach kurzem nachdenken. "Das ist eine schwierige Frage, auch wenn's gar nicht so aussieht. Die Kunst, das ist meiner Meinung nach eines der Mittel, mit deren Hilfe der Mensch mit seinen Mitmenschen kommunizieren kann. Ein Maler, ein Bildhauer, ein Musiker oder, warum nicht, auch ein Schriftsteller, sie alle versuchen, durch die Kunst denen eine Idee oder ein Gefühl zu vermitteln, die ihnen zuhören, den Konsumenten, wie man heute wohl sagen würde. Ich behaupte daher, daß immer dann, wenn es zu einer Übertragung von Gefühlen kommt, Kunst im Spiel ist, wenn hingegen nichts beim Betrachter ankommt, dann hat das Ganze nichts mit Kunst zu tun."

"Das heißt dann also", wirft Salvatore ein, "da ich überhaupt nichts gespürt hab, als ich vor dem Bild mit den Schnitten stand, vor dem von ..."

"... von Fontana", ergänzt Saverio.

"... von Fontana", wiederholt Salvatore, "wenn ich da nichts gespürt hab, dann hat keine Übertragung stattgefunden, und folglich ist das keine Kunst?"

"Genau", bestätigt der Professor. "Lucio Fontana, das ist für Salvatore sicher keine Kunst, es kann aber durchaus für Bellavista Kunst sein."

"Das versteh ich nicht, ist es nun Kunst oder nicht?"

"Salvatò, im alten Griechenland gab es einen Philosophen, der die Existenz der Wahrheit, einer einzigen, für alle verbindlichen Wahrheit geleugnet hat. Das war Protagoras aus Abdera. Dieser Protagoras hat gesagt: 'Der mensch ist das Maß aller Dinge, des Seienden für sein Sein, des Nichtseienden für sein Nichtsein.'"

"Und was heißt das?" will Salvatore wissen. "Siehst du, du versteht nicht, was er damit sagen will! Ruft Saverio aus. "Das kommt davon, daß du nicht studiert hast."

"Protagoras wollte sagen", erklärt Bellavista, "daß jeder von uns der Mittelpunkt des Universums ist. Jeder von uns kann entscheiden, was ist und was nicht ist. Wenn für dich Fontana nicht mehr ist als ein Vandale, der mit Rasierklingen Bilder zerschneidet, um seine Mitmenschen auf den Arm zu nehmen, dann gibt Protagoras dir recht. Er sagt dir: 'Salvatò, Fontana ist keine Kunst.' Aber zugleich gibt er auch mir recht, wenn ich jedesmal beim Betrachten eines Bildes von Fontana eine seltsame Empfindung habe, wie sie etwa ein Vogel haben könnte, der zwischen Himmel und Erde umherfliegt."

"Also nein, Professore", protestiert Salvatore und erhebt sich von seinem Stuhl. "Jetzt versuchen Sie aber, mir was vorzuschwindeln. So ein Gefühl haben Sie doch gar nicht. Nein, ich bin überzeugt, daß alle, die gestern die Ausstellung angeschaut haben, genau der gleichen Meinung waren wie ich, nur daß sie nicht den Mut gehabt haben, es zu sagen. Sogar Saverio, der keine Ahnung von Kunst hat und nicht mal zehntausend Lire für ein Bild hinlegen würde, hat scheinheilig, wie ich es bei ihm noch nie erlebt hab, zu dem Professore, der uns geführt hat, gesagt: 'wirklich sehr beeindruckend, dieser Fontana"'"

"Na und?" beginnt Saverio sich zu rechtfertigen. "Das hab ich nur gesagt, um ihn zufriedenzustellen. Ich hab gemerkt, daß er für diesen Maler eine Schwäche hat, und da wollte ich ihm, na ja ..."

"Einen Gefallen erweisen", schlägt Bellavista vor.

"Ja, genau. Einen Gefallen erweisen wollte ich ihm", wiederholt Saverio. "Und noch was anderes: ist euch klar, was für ein furchtbares leben dieser Fontana gehabt haben muß?"

"Wie meinst du das?" will Salvatore wissen.

"Na, stellt euch doch nur vor, wie sich seine Freunde über ihn lustig gemacht haben müssen, als er noch jung und unbekannt war." Und jetzt schlüpft Saverio in die rolle eines hypothetischen Freundes von Fontana: "'Lucio, was hast du heute gemacht? Wieder ein Bild? Hast dich müde gearbeitet?' und alle brechen in Gelächter aus. Auch mit dem Hausmädchen wird er Schwierigkeiten gehabt haben. Ich stelle mir vor, wie er zu ihr sagt: 'Caterì, in meinem Atelier darfst du nie etwas wegwerfen; auch wenn mal eine kaputte Leinwand herumliegt, schmeiß sie nicht weg, sie kostet Millionen!'"

"Wirklich, Professore, diese modernen Künstler sind übel dran, solange sie nicht berühmt sind!" kommentiert Saverio. "Was ich mich frage, ist, wie zukünftige Generationen damit klarkommen."

"Zukünftige Generationen?" wiederholt Saverio verständnislos.

"Ja, zukünftige Generationen, die Menschen im Jahr 3000. Ich erklär euch das mit einem Beispiel. Vor einiger zeit habe ich im "Mattino" gelesen, daß unter dem Schutt einer verfallenen Villa ein Bild von Raphael gefunden wurde. Der Maurer, der's entdeckt hat, hat auch einen anständigen Finderlohn gekriegt. Jetzt nehmen wir mal an, im Jahr 3000 würde man unter den Trümmern der Villa Pignatelli ein Bild von Wassermann finden ..."

"Von Wesselmann", korrigiert Bellavista.

"Ja, von Wesselmann ... der mit dem Badezimmer, von ich vorhin erzählt hab. Was würde der Maurer im Jahr 3000 denken? Daß er da ein Kunstwerk gefunden hat oder ein kaputtes Klo?"

"Daß er ein kaputtes Klo gefunden hat", antwortet Bellavista lächelnd. "Und so würde er nicht mal Finderlohn kriegen!"
(Seite 29-35)

"Haben Sie jemals versucht, Bilder ganz regulär zu verkaufen, so wie alle anderen Kunsthändler?" will Cazzaniga wissen.

"Ja, aber das klappt nicht. Sehen Sie, die moderne Kunst steckt in einem Dilemma: Da das Publikum das Kunstwerk selbst nicht beurteilen kann, muß es, um zu einer Meinung zu gelangen, ein Urteil über die Person des Künstlers fällen. Nehmen wir einmal an, Salvador Dali würde dem Abgeordneten Forlani ähnlich sehen, er hätte das gleiche nichtssagende Gesicht, würde den gleichen grauen Anzug tragen, meinen Sie, der hätte dann genausoviel Erfolg? Nein, meine lieben Freunde. Man muß den Käufer an der Hand nehmen wie ein kleines Kind, und dafür bin ich da: um mit meiner Erfahrung seinen Mangel an Phantasie auszugleichen und ihm das an Gefühl zu vermitteln, was er von alleine niemals empfinden würde.
(S.48)


Zur Schwierigkeit, Atomschutzbunker zu verkaufen, und was das mit Philosophie und Politik zu tun hat:

"Die Schüchternheit gehört sowohl der Welt der Liebe als auch der Welt der Freiheit an", erklärt Bellavista. "Als Ausdruck der Empfindsamkeit des Schüchternen und seines sanften Gemüts ist sie ein Kind der Liebe, doch sie ist zugleich ein Kind der Freiheit, da sie erzeugt wird von der Furcht davor, in die Intimsphäre der Person einzudringen, mit der man zu tun hat."

Wie jeden Dienstag hält der Professor in seiner Wohnung eine Philosophievorlesung. In seinem Wohnzimmer sind versammelt: Salvatore, der Müllmann Saverio, der Oberst Santanna und Luigino, der Dichter. Thema des Tages: die Schüchternheit im alten Griechenland.

"Professore", meldet sich Saverio, "Ihr Schwiegersohn ist zu schüchtern. Ich finde, er hat den Beruf verfehlt: Der ist nicht zum Vertreter geeignet. Schon wenn man sieht, wie er auftritt, wenn er einen Termin vereinbaren will, vergeht einem die Lust, irgendwas zu kaufen. Gestern früh bin ich mit ihm zur Citalcon, einer Gerberei in Casagiove, gegangen, und glauben Sie mir. Der Pförtner hat ihn überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, er hat ihn nur kurz angeschaut und sofort gesagt: 'tut mir leid, aber Ihr Artikel interessiert uns nicht, wir haben das Lager voll davon.' Und hat ihm die Tür vor der Nase zugeknallt. Erst als ich mich darum gekümmert hab, ist er dann doch noch vom Besitzer der Firma empfangen worden."

"Und dann? Hat er einen Bunker losgekriegt?" erkundigt sich Salvatore.

"Wie hätte er das denn machen sollen?" fragt Saverio zurück. "Der Besitzer von Citalcon hat ihm gesagt, daß er bis zum Hals in Schulden steckt und daß für ihn das Schlimmste an einem Atomkrieg ist, daß er nicht mehr sehen kann, wie dann alle seine Wechsel verbrennen."

"Jedenfalls kann man seine Schüchternheit mit Hilfe eines geeigneten Trainings überwinden", fährt Bellavista fort, ohne auf die Bemerkungen über seinen Schwiegersohn einzugehen. "Der Kyniker Krates begab sich Nacht für Nacht hinaus auf die Straßen von Athen und beschimpfte die Prostituierten, die er dort traf; das tat er, um am nächsten Morgen, wenn er sich auf der Agora mit seinen Widersachern messen mußte, in Form zu sein."

"Da hat er wohl jede Nacht ganz schön üble Beschimpfungen einstecken müssen!" kommentiert Saverio.

"Einmal vertraute man einen äußerst schüchternen jungen Mann, einen gewissen Metrokles, seiner Obhut an. Den Eltern von Metrokles war aufgefallen, daß dieser beim geringsten Anlaß errötete wie ein Mädchen. So hatten sie beschlossen, den Kyniker Krates zu bitten, er möge aus dem Jungen einen Mann machen, der es mit den Widrigkeiten des Lebens aufnehmen könne. Krates ging zunächst mit ihm in eine Turnhalle, um seinen Körper zu kräftigen. Der Kyniker war der Meinung, daß die gewonnene Muskelkraft ihm größere Sicherheit verleihen würde. Doch als Metrokles mit aller Kraft versuchte, ein Gewicht zu anzuheben, entfuhr ihm ein wenig Luft ..."

"Ein Furz?" will Salvatore, der nicht sicher ist, richtig verstanden zu haben, wissen.

"ja, ein Wind."

"Ein lauter oder ein leiser Wind?"

"Ein lauter."

"Und das steht in einer Philosophiegeschichte? Fragt Salvatore voller Zweifel.

"Ja, davon berichtet Diogenes Laertius."

"Ah ja!"

"Als Metrokles bemerkte, daß ringsum alles erstaunt auf ihn schaute, wurde er rot und faßte sofort den Entschluß, seinem Leben ein Ende zu setzen..."

"Da übertreibt er aber ganz schön!" ruft Salvatore aus. "Er braucht sich doch nicht gleich umzubringen! Es reicht ja, wenn er sich bei den andern entschuldigt, wenn er sagt: 'Verzeihung, ich habe Blähungen', und alles ist wieder in Ordnung. Sonst müßten wir uns ja in einem fort umbringen."

"Schon gut, Salvatò", meldet sich Saverio zu Wort, "aber erstens war der Junge halt schüchtern, und zweitens, sagen wir's doch, wie's ist: Er hat sich eben ganz schön blamiert."

"Darauf", fährt Bellavista unbeirrt fort, "sagte Krates zu ihm: 'Lieber Metrokles, du willst dir das Leben nehmen, und ich respektiere deinen Entschluß. Doch es wäre mir lieber, wenn die Entscheidung, die du getroffen hast, auf einer Wahl beruhen würde. Weißt du, was der Tod ist' - 'Nein', erwidert Metrokles. 'Der Tod ist das Nichts. Nun meine ich, du solltest, ehe du dir das leben nimmst, das Nichts dem gegenüberstellen, was du durch den Entschluß, dein Leben nicht fortzusetzen, verlieren würdest. Morgen werde ich dir die bedeutendsten Männer der Polis vorstellen, damit du siehst, was alles aus dir werden könnte, wenn du erst ein Mann bist."

"Gut gemacht, Krates!"

"Am anderen Morgen verspeiste der Philosoph zunächst ein Kilo Bohnen, dann nahm er Metrokles an der Hand und ging mit ihm zu den Archonten von Athen. 'dies', sagte Krates, während er sich vor jeden von ihnen verbeugte, 'sind die Männer, die die Geschicke der Polis lenken', und ließ dabei kräftig einen fahren."

"Einen Furz?" fragte Salvatore nach, den dieses Wort zu beeindrucken scheint.

"jawohl. Dann begaben sie sich zu den zehn Strategen. 'Und dies sind die Strategen, die Männer, die Athen im Krieg verteidigen', erklärte Krates und ließ wieder einen ziehen. Dies tat er so oft, daß Metrokles schließlich überzeugt war, es sei etwas ganz Normales."

"Und das steht alles in der Philosophiegeschichte?" fragt Salvatore noch einmal. "Sind Sie wirklich sicher?"

"Jawohl."

"Na dann."

"Ein andermal hat Krates ..."

Der Professor bricht ab, weil in diesem Augenblick Giorgio eintritt, der einen völlig niedergeschlagenen Eindruck macht. Bellavistas Schweigersohn wirft sein Köfferchen mit den Prospekten in die Ecke und läßt sich erschöpft in einen Sessel fallen.

"Nichts, Architetto?" fragt Saverio.

"Nichts."

"Und was sagen die Leute?"

"Die sagen: 'Wollen Sie vielleicht ewig leben? Wenn die Bombe fällt, ist eh nichts mehr zu machen. Irgendwann müssen wir doch alle dran glauben!'"

"Und haben Sie ihnen das mit der Nato und der Bombe mit den drei Sprengköpfen erzählt?"

"Ja, aber das macht ihnen überhaupt keine Angst."

"Professore", sagt Luigino und erhebt sich. "Wenn Sie erlauben, ein kurzes Gedicht, passend zu dieser Gelegenheit. Ich habe ein kleines Sonett verfaßt:

    Zuerst war der Mensch nur ein haariger Aff,
    dann erfand er das Rad, und die Welt war baff,
    dann den Zug und das Flugzeug und die Television,
    und jetzt hat er auch die Atombombe schon.
    Bei all diesem Fortschritt, da kommt mir ein Zweifel,
    sicher schickt sich der Mensch bald selber zum Teufel!"
"Wie macht er das bloß?" ruft Salvatore bewundernd aus, während der Oberst sich erhebt, um den Dichter zu beglückwünschen.

"Ich weiß nicht", antwortet Giorgio mechanisch. "Alles was ich weiß, ist, daß ich in Neapel meine Zeit verschwende. Und das Schlimmste: In einpaar Tagen kommt der Generaldirektor der Sicurat, Doktor Fankfurter, aus der Schweiz hierher, und was soll ich dem sagen? Daß alles bestens ist?"

"Daß der Artikel schwer an den Mann zu bringen ist, natürlich!" rät der Oberst.

"Ich glaube", meint der Professor, "daß die Neapolitaner die Vorstellung eines kollektiven Todes rundweg ablehnen."

"Was wollen Sie damit sagen?" fragt Salvatore.

"Der wahre Neapolitaner hat, als Mensch der Liebe, etwas Fundamentales verstanden, nämlich, daß der Tod nur als ein Ereignis existiert, das den Hinterbliebenen Schmerz bereitet, ohne das würde er nicht existieren. Das hat auch Epikur gesagt: 'Warum sollten wir den Tod fürchten: Solange wir sind, ist der Tod nicht da: Wenn aber der Tod da ist, dann sind schon wir nicht mehr.'"

"Bei allem Respekt vor Epikur", mein Salvatore dazu, "aber der Satz ist meiner Meinung nach der reinste Quatsch. Was soll das heißen, daß der Tod nicht existiert?"

"Ich will sagen", stellt Bellavista klar, "daß ein kollektives, allgemeines Sterben für einen Neapolitaner nichts Schreckliches ist, es ist beinahe ein Fest: ein Tod ohne Tränen und ohne Beerdigungen. Auf der anderen Seite, könnt ihr euch das leben der Überlebenden vorstellen? Was sollen die Armen machen, wenn sie den ersten Monat im Schutzbunker hinter sich gebracht haben? Wieder hinaufklettern, und was erwartet sie da? In den Straßen nichts als Tote: Leichen über Leichen. Ohne Flugzeuge und Züge haben sie nicht einmal die Möglichkeit zu fliehen. Es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als wieder in den Bunker zu steigen und sich darin einzuschließen. Und woher nehmen sie die nötigen Lebensmittel?"

"In meinen Schutzbunkern sind Lebensmittelvorräte für sechs Monate vorhanden", entgegnet Giorgio.

"Und lohnt es sich wirklich, noch sechs Monate in einem unterirdischen Grab zu leben?" fragt Bellavista.

"Papa, wenn alle so denken würden wie ihr, wären nicht Millionen von Atomschutzbunkern in der ganzen Welt verkauft worden. Wißt ihr, daß es in Lugano ein dreistöckiges Krankenhaus gibt, unter dem - unterirdisch - ein zweites dreistöckiges Krankenhaus liegt, atombombensicher? Das unten sieht genauso aus wie das oben. Da gibt's einen Aufnahmebunker auf der ersten Ebene, einen für die nicht ganz so Kranken auf der zweiten und einen für Schwerkranke auf der dritten."

"Siehst du, Savè", mein Salvatore dazu, "in der Schweiz wollen nicht mal die Leute sterben, die eh schon todkrank sind! Ich finde, wenn einer unheilbar krank ist und unausweichlich sterben muß, dann sollte er sich doch freuen, wenn er das in Gesellschaft von uns allen tun kann! Aber nein. Er will durchhalten, solang's geht! Völliger Schwachsinn, aber er denkt nicht dran aufzugeben!"

"Offen gesagt bin ich auch gegen die Atomschutzbunker", erklärt der Oberst. "Stellt euch doch mal vor: Für mich, meine Frau und das Hausmädchen würde ein ganz kleiner Bunker reichen, ein paar Zimmer und ein Klos. Aber ich bin sicher, daß ich an jenem verhängnisvollen Tag, wenn ich hinab in den Keller steige, die ganze Familie Carratelli vor der Tür zum Bunker versammelt finde: Vater, Mutter, Schwiegertochter und sieben Kinder. Die Carratellis wohnen neben mir, seit zwölf Jahren lebe ich mit ihnen Tür an Tür. Nun ist der Buchhalter Carratelli ja ein sehr zurückhaltender Mensch, in all den Jahren hat er nie irgendetwas von mir gewollt, nicht mal eine Zitrone oder einen Korkenzieher. Aber könnt ihr ihn euch an dem Tag vorstellen? Er wird sich auf die Treppe vor dem Bunker setzen und mich stumm anblicken, mit einem Gesicht, als ob er sagen wollte: 'Ihr rettet euch, und wir müssen hier draußen sterben.' Und was soll ich da machen? Ich kann ja wohl nicht mit einem 'Gestatten Sie' die Tür hinter mir schließen. Nein, Architetto, glauben Sie mir, hier in Neapel ist das mit den Schutzbunkern so eine Sache: Entweder es gibt für alle welche oder das ganze funktioniert nicht."


Heraklit: Wer nicht hofft, wird Unerhofftes nicht finden; denn es ist aufspürbar und unzugänglich.
Falls sich auch der Leser darin versuchen möchte: Wenn einer Wunder bewirken will, lautet die erste Regel, daß er selber an seine Fähigkeit glauben muß, sie bewirken zu können.
Luciano De Crescenzo: Alles fließt, sagt Heraklit. Berlin, Knaus 1995:216
Original 1994 bei Mondadori, Milano unter dem Titel Panta rei erschienen