Zitate von Pierre Bourdieu(1. August 1930 in Denguin (Dep. Pyrénées-Atlantiques) - 23. Januar 2002 in Paris) "In den Analysen des Nationalsozialismus wird traditionellerweise den
kleinen Kaufleuten, den rassistischen, stumpfsinnigen Spießern eine
große Erklärungslast aufgebürdet. Ich meine dagegen, daß die 'proletaroiden
Intellektuellen', wie Weber sie nannte - höchst unglückliche und höchst
gefährliche Leute -, bei allen historischen Ausbrücken von Gewalt eine
wichtige und wahrlich unheilvolle Rolle gespielt haben, sei es in der
chinesischen Kulturrevoltuion, den Ketzerbewegungen des Mittelalters,
den pränazistischen oder direkt nazistischen Bewegungen und selbst der
Französischen Revolution (wie Robert Darnton an Marat gezeigt hat).
Ähnlich gab es auch in der 68er Mai-Bewegung ungeheure Ambivalenzen:
Hinter der spaßigen, witzig-intelligenten und etwas clownesken Seite,
verkörpert durch Daniel Cohn-Bendit, verbarg sich eine andere, sehr
viel weniger lustige und sympathische - das Ressentiment liegt ständig
auf der lauer, um sich in die kleinste sich ihm bietende Bresche zu
stürzen ..." "Zunächst einmal muß man sich fragen, ob es tatsächlich eine Nachfrage
nach, einen Bedarf an einen sozialwissenschaftlichen Diskurs gibt. Wer
will denn wirklich die Wahrheit über die soziale Welt wissen? Gibt es
Leute, die das wollen, die an der Wahrheit interessiert sind - und wenn
ja: Sind sie übehaupt imstande, danach zu fragen?" "Auf die Gefahr hin, arrogant zu erscheinen, möchte ich mich auf Spitzer
und dessen Ausführungen zu Proust beziehen. Was Spitzer über Prousts
Stil sagt, könnte ich auch über meinen Stil sagen - die Frage der literarischen
Qualität einmal außer acht gelassen. Er sagt Folgendes: Erstens, daß
Komplexes sich nur auf komplexe Weise sagenläßt, zweitens, daß die Wirklichkeit
nicht nur komplex ist, sondern auch strukturiert, hierarchisch geordnet
und daß eine Vorstellung von dieser Struktur vermittelt werden muß:
Will man die Welt in ihrer ganzen Komplexität erfassen und zugleich
hierarchisch gliedern, perspektivisch ordnen, muß man auf solche schwerfällig
angeschlossenen Sätze zurückgreifen". (...) "Politik ist wesentlich eine Angelgenheit mit Worten und um Worte.
Deshalb muß der Kampf um die wissenshaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit
fast immer mit einem Kampf gegen Worte beginnen. (...) "Kodifizieren, das heißt, im Akt der Formgebung zugleich entschärfen.
Der Form eignet eine besondere Qualität. Kulturelle Beherrschung ist
immer auch Beherrschung der Formen. (...) "Zwischen Personen derselben Gruppe, die mit dem gleichen Habitus
ausgestattet und folglich spontan aufeinander abgestimmt sind, geht
alles wie von selbst, sogar die Konflikte. Sie verstehen sich durch
kleinste Andeutungen... Wo jedoch unterschiedliche Habitus auftreten,
entsteht die Möglichkeit von Unfällen, Zusammenstößen, Konflikten...
Die Kodifizierung ist äußerst wichtig, weil sie eine minimale Kommunikation
verbürgt."
Vgl. zu dieser Überlegung die sogenannte "Ausländer"- oder "Fremdenproblematik". Vgl. ebenso Heimatbegriff: Ort und soziales Gefüge, wo jene Habiti existieren, die Vertrautheit bieten = Geborgenheit, leichte, selbstverständliche Kommunikation. Um Fremdes offen, interessant, erkundenswert finden zu können, muß man über bestimmte Voraussetzungen, Sicherheiten, Stärken, Vermögen verfügen, um sich darauf überhaupt einlassen zu können. Xenophobie als Schwächezeichen, weil eben spezifische Bedingungen nicht erfüllt sind, so daß fremde Habitii nicht gleich leicht gedeutet werden können, verwirrend zu Nervosität oder überempfindlicher, gereizter Reaktion führen, was eine Kettenreaktion von Mißverständnissen auslöst, resultierend in Aversion, Barrieren etc. Es gibt eine genuin symbolische Wirksamkeit der Form. Symbolische Gewalt, die im Recht sicher ihre Realisierung par excellence findet, ist eine Gewalt, die sich gewissermaßen formgemäß, durch Formgebung entschärfend auswirkt. Formen setzen, Formen beachten heißt, einer Handlung oder Rede die als angemessen, legitim erachtete Form verleihen, jene Form, mit der vor aller Augen ein bestimmter Wille bekundet oder eine bestimmte Tätigkeit vollzogen werden kann, die, anderes präsentiert, unannehmbar wäre (darin beruht die Funktion des Euphemismus)." Pierre Bourdieu: Kodifizierung (1983/1986); In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:108f (es1547) "Die Wahrnehmung der sozialen Welt ist somit Produkt einer doppelten
Strukturierung: Von objektiver Seite aus ist sie sozial strukturiert,
weil die den Akteuren zugewiesenen Eigenschaften sich in Kombinationen
darbieten, die ungleiche Wahrscheinlichkeiten aufweisen. (...) "Die symbolischen Kämpfe hinsichtlich der Perzeption der sozialen
Welt können zwei unterschiedliche Formen annehmen. Auf objektiver Seite
kann durch individuelle wie kollektive Repräsentationshandlungen agiert
werden, mit denen bestimmte Realitäten sichtbar gemacht und zur Geltung
gebracht werden sollen(.) (...) "Die objektiven Machtbeziehungen reproduzieren sich ihrer Tendenz
nach in den symbolischen Machtbeziehungen. In die symbolischen Kämpfe
um die Schaffung des Alltagsverstandes oder, genauer, um das Monopol
auf legitime Benennung setzen die Akteure das symbolische Kapital ein,
das sie in den vorangegangenen Kämpfen errungen haben und das gegebenenfalls
juridisch abgesichert wurde." "Symbolische Macht ist in diesem Sinne ein Vermögen des worldmaking.
Worldmaking, Konstruktion von Welt, besteht nach Nelson Goodman darin,
"zu trennen und zu vereinen, manchmal in ein und demselben Verfahren",
aufzulösen, zu analysieren, und zusammenzufügen, zu synthetisieren,
häufig mit Hilfe von Etiketten. Wie dies auf die archaischen Gesellschaften
zutrifft, die vor allem anhand dualistischer Gegensatzpaare - männlich-weiblich,
oben-unten, stark-schwach usw. - vorgehen, organisieren die sozialen
Klassifizierungen die Wahrnehmung der sozialen Welt; unter bestimmten
Umständen können sie sogar die reale Welt selbst organisieren." "Will man die Welt ändern, muß man die Art und Weise, wie Welt 'gemacht'
wird, verändern. Das heißt, man muß die Weltsicht und die praktischen
Operationen verändern, mit denen die Gruppen produziert und reproduziert
werden." "Symbolische Macht ist die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen."
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