Zitate von Pierre Bourdieu

(1. August 1930 in Denguin (Dep. Pyrénées-Atlantiques) - 23. Januar 2002 in Paris)

"In den Analysen des Nationalsozialismus wird traditionellerweise den kleinen Kaufleuten, den rassistischen, stumpfsinnigen Spießern eine große Erklärungslast aufgebürdet. Ich meine dagegen, daß die 'proletaroiden Intellektuellen', wie Weber sie nannte - höchst unglückliche und höchst gefährliche Leute -, bei allen historischen Ausbrücken von Gewalt eine wichtige und wahrlich unheilvolle Rolle gespielt haben, sei es in der chinesischen Kulturrevoltuion, den Ketzerbewegungen des Mittelalters, den pränazistischen oder direkt nazistischen Bewegungen und selbst der Französischen Revolution (wie Robert Darnton an Marat gezeigt hat). Ähnlich gab es auch in der 68er Mai-Bewegung ungeheure Ambivalenzen: Hinter der spaßigen, witzig-intelligenten und etwas clownesken Seite, verkörpert durch Daniel Cohn-Bendit, verbarg sich eine andere, sehr viel weniger lustige und sympathische - das Ressentiment liegt ständig auf der lauer, um sich in die kleinste sich ihm bietende Bresche zu stürzen ..."
Pierre Bourdieu: Bezugspunkte. Interview, EA Amsterdam 1985; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:64 (es1547)

"Zunächst einmal muß man sich fragen, ob es tatsächlich eine Nachfrage nach, einen Bedarf an einen sozialwissenschaftlichen Diskurs gibt. Wer will denn wirklich die Wahrheit über die soziale Welt wissen? Gibt es Leute, die das wollen, die an der Wahrheit interessiert sind - und wenn ja: Sind sie übehaupt imstande, danach zu fragen?"
Pierre Bourdieu: Bezugspunkte. Interview, EA Amsterdam 1985; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:69 (es1547)

"Auf die Gefahr hin, arrogant zu erscheinen, möchte ich mich auf Spitzer und dessen Ausführungen zu Proust beziehen. Was Spitzer über Prousts Stil sagt, könnte ich auch über meinen Stil sagen - die Frage der literarischen Qualität einmal außer acht gelassen. Er sagt Folgendes: Erstens, daß Komplexes sich nur auf komplexe Weise sagenläßt, zweitens, daß die Wirklichkeit nicht nur komplex ist, sondern auch strukturiert, hierarchisch geordnet und daß eine Vorstellung von dieser Struktur vermittelt werden muß: Will man die Welt in ihrer ganzen Komplexität erfassen und zugleich hierarchisch gliedern, perspektivisch ordnen, muß man auf solche schwerfällig angeschlossenen Sätze zurückgreifen". (...)
Jedenfalls steht fest, daß ich keine einfachen und leicht zu begreifenden Aussagen zu machen suche und jene Strategie als gefährlich erachte, die das strenge Fachvokabular um des lesbaren und einfachen Stils willen aufgibt. Warum? Zum einen deshalb, weil die trügerische Klarheit häufig Sache des herrschenden Diskurses ist, des Diskurses derer, die meinen, daß alles sich von selbst versteht, weil es so, wie es ist, richtig ist. Der konservative Diskurs hält sich immer am gesunden Menschenverstand. (...) Und der gesunde menschenverstand spricht die einfache, klare Sprache der Evidenz, des Selbstverständlichen. Zum zweiten: Über die soziale Welt in vereinfachter und vereinfachender Weise zu reden, damit ermöglicht man unweigerlich gefährliche Manipulationen an dieser Welt."
Pierre Bourdieu: Bezugspunkte. Interview, EA Amsterdam 1985; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:70 (es1547)

"Politik ist wesentlich eine Angelgenheit mit Worten und um Worte. Deshalb muß der Kampf um die wissenshaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit fast immer mit einem Kampf gegen Worte beginnen. (...)
Im Hinblick auf die soziale Welt macht uns der Alltgsgebrauch der Alltagssprache zu Metaphysikern. Die Gewöhnung an das leere politische Gerede und die Verdinglichung der Kollektive, wie es gewisse Philosophen praktiziert haben, haben zur Folge, daß die Trugschlüsse und logischen Gewaltstreiche, die in den trivialsten alltagspraktischen Äußerungen enthalten sind, nicht mehr wahrgenommen werden."
Pierre Bourdieu: Bezugspunkte. Interview, EA Amsterdam 1985; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:74 (es1547)

"Kodifizieren, das heißt, im Akt der Formgebung zugleich entschärfen. Der Form eignet eine besondere Qualität. Kulturelle Beherrschung ist immer auch Beherrschung der Formen. (...)
In der Mehrzahl unserer alltäglichen Verhaltensweisen sind wir durch praktische Schemata geleitet, das heißt durch 'Prinzipien, die dem Handeln Ordnung auferlegen', durch Informationsschemata. Dies sind Klassifikationsprinzipien, Prinzipien der Hierarchisierung und Teilung und, in eins damit, der Weltsicht, kurz: alles das, was jedem von uns erlaubt, Dinge auseinanderzuhalten, die von anderen vermischt werden, eine diacrisis zu vollziehen, ein Unterscheidungsurteil zu treffen. Wahrnehmung ist grundlegend diakritisch: sie trennt Form und Inhalt, Wichtiges und Unwichtiges, Zentrales und Peripheres, Aktuelles und Nichtaktuelles."
Pierre Bourdieu: Kodifizierung (1983/1986); In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:101f (es1547)

"Zwischen Personen derselben Gruppe, die mit dem gleichen Habitus ausgestattet und folglich spontan aufeinander abgestimmt sind, geht alles wie von selbst, sogar die Konflikte. Sie verstehen sich durch kleinste Andeutungen... Wo jedoch unterschiedliche Habitus auftreten, entsteht die Möglichkeit von Unfällen, Zusammenstößen, Konflikten... Die Kodifizierung ist äußerst wichtig, weil sie eine minimale Kommunikation verbürgt."
Pierre Bourdieu: Kodifizierung (1983/1986); In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:104 (es1547)

    Anmerkung HLH:
    Vgl. zu dieser Überlegung die sogenannte "Ausländer"- oder "Fremdenproblematik".
    Vgl. ebenso Heimatbegriff: Ort und soziales Gefüge, wo jene Habiti existieren, die Vertrautheit bieten = Geborgenheit, leichte, selbstverständliche Kommunikation.
    Um Fremdes offen, interessant, erkundenswert finden zu können, muß man über bestimmte Voraussetzungen, Sicherheiten, Stärken, Vermögen verfügen, um sich darauf überhaupt einlassen zu können. Xenophobie als Schwächezeichen, weil eben spezifische Bedingungen nicht erfüllt sind, so daß fremde Habitii nicht gleich leicht gedeutet werden können, verwirrend zu Nervosität oder überempfindlicher, gereizter Reaktion führen, was eine Kettenreaktion von Mißverständnissen auslöst, resultierend in Aversion, Barrieren etc.
"Eine der Stärken (und zugleich Schwächen) der Formalisierung liegt darin, daß sie - wie jede Rationalisierung - einem erspart, sich Neues auszudenken, improvisieren, schöpferisch tätig sein zu müssen. (...)
Es gibt eine genuin symbolische Wirksamkeit der Form. Symbolische Gewalt, die im Recht sicher ihre Realisierung par excellence findet, ist eine Gewalt, die sich gewissermaßen formgemäß, durch Formgebung entschärfend auswirkt. Formen setzen, Formen beachten heißt, einer Handlung oder Rede die als angemessen, legitim erachtete Form verleihen, jene Form, mit der vor aller Augen ein bestimmter Wille bekundet oder eine bestimmte Tätigkeit vollzogen werden kann, die, anderes präsentiert, unannehmbar wäre (darin beruht die Funktion des Euphemismus)."
Pierre Bourdieu: Kodifizierung (1983/1986); In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:108f (es1547)

"Die Wahrnehmung der sozialen Welt ist somit Produkt einer doppelten Strukturierung: Von objektiver Seite aus ist sie sozial strukturiert, weil die den Akteuren zugewiesenen Eigenschaften sich in Kombinationen darbieten, die ungleiche Wahrscheinlichkeiten aufweisen. (...)
Von subjektiver Seite ist sie strukturiert, weil die Wahrnehmungs- und Urteilsschemata, zumal die in der Sprache liegenden, den Zustand er symbolischen Machtbeziehungen zum Ausdruck bringen."
Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:146f (es1547)

"Die symbolischen Kämpfe hinsichtlich der Perzeption der sozialen Welt können zwei unterschiedliche Formen annehmen. Auf objektiver Seite kann durch individuelle wie kollektive Repräsentationshandlungen agiert werden, mit denen bestimmte Realitäten sichtbar gemacht und zur Geltung gebracht werden sollen(.) (...)
Auf subjektiver Seite kann man agieren, indem man versucht, die Kategorien der Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Welt, die kognitiven und evaluativen Strukturen zu verändern: Es sind die Wahrnehmungskategorien, die Klassifikationssysteme, das heißt, im wesentlichen, die Wörter und Namen, die die soziale Wirklichkeit sowohl konstruieren als auch zum Ausdruck bringen, um die der politische Kampf wesentlich geht, der Kampf um die Durchsetzung des legitimen Prinzips von Vision und Division, das heißt um die legitime Ausübung des Theorie-Effekts."
Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:147 (es1547)

"Die objektiven Machtbeziehungen reproduzieren sich ihrer Tendenz nach in den symbolischen Machtbeziehungen. In die symbolischen Kämpfe um die Schaffung des Alltagsverstandes oder, genauer, um das Monopol auf legitime Benennung setzen die Akteure das symbolische Kapital ein, das sie in den vorangegangenen Kämpfen errungen haben und das gegebenenfalls juridisch abgesichert wurde."
Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:149 (es1547)

"Symbolische Macht ist in diesem Sinne ein Vermögen des worldmaking. Worldmaking, Konstruktion von Welt, besteht nach Nelson Goodman darin, "zu trennen und zu vereinen, manchmal in ein und demselben Verfahren", aufzulösen, zu analysieren, und zusammenzufügen, zu synthetisieren, häufig mit Hilfe von Etiketten. Wie dies auf die archaischen Gesellschaften zutrifft, die vor allem anhand dualistischer Gegensatzpaare - männlich-weiblich, oben-unten, stark-schwach usw. - vorgehen, organisieren die sozialen Klassifizierungen die Wahrnehmung der sozialen Welt; unter bestimmten Umständen können sie sogar die reale Welt selbst organisieren."
Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:151 (es1547)

"Will man die Welt ändern, muß man die Art und Weise, wie Welt 'gemacht' wird, verändern. Das heißt, man muß die Weltsicht und die praktischen Operationen verändern, mit denen die Gruppen produziert und reproduziert werden."
Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:152 (es1547)

"Symbolische Macht ist die Macht, Dinge mit Wörtern zu schaffen."
"Der Kampf der und um Klassifikationen ist eine grundlegende Dimension des Klassenkampfes. Eine Sicht der Trennungen und Gliederungen erfolgreich durchsetzen zu können, das heißt die macht, die impliziten sozialen Trennungen und Gliederungen sichtbar und explizit zu machen, stellt die politische Macht par excellence dar: die Macht, Gruppen zu schaffen, die objektive Struktur der Gesellschaft zu manipulieren."
Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und symbolische Macht; In: Rede und Antwort, Frankfurt/M. 1992:153 (es1547)


Links: