Zitate von John Berger

* 5. November 1926 im englischen Stoke Newington

Während meines ersten US-Aufenthalts 1973 kam ich zu "Ways of Seeing" (London, 1972), einem Buch, das auf der gleichnamigen BBC Television Serie von John Berger und Kollegen beruht. Ich fing sofort Feuer; sein Buch verwendete ich oft in meinen Lehrveranstaltungen. Später las ich andere Texte von ihm; seine "linke" Position, sein Engagement, sein Humanismus, seine Kreativität begeistern mich noch heute. Er ist ein undogmatischer, offener Linker, kurz, ein "Gebildeter". Sein politischer, historischer Blick simplifiziert nicht unlauter, seine Ideologie wirkt nicht als Einengung, sondern als Auftrag. Wie er Kunst, Ästhetik mit dem Alltag, also dem Konkreten, dem Gesellschaftlichen, dem Politischen verbindet, ist (s)eine eigene Meisterschaft.

Wenn die gerechte Sache unterliegt, wenn die Mutigen erniedrigt werden, wenn in Stollen und Schacht erprobte Männer wie der letzte Dreck behandelt werden, wenn auf Hochherzigkeit geschissen wird und die Richter Lügen glauben und Verleumder fürs Verleumden mit Gehältern bezahlt werden, von denen die Familien eines ganzen Dutzends streikender Bergarbeiter ihr Leben fristen könnten, wenn der Goliath der Polizeimacht mit den blutigen Gummiknüppeln sich nicht auf der Anklagebank, sondern auf der Ehrenliste findet, wenn unsere Vergangenheit entehrt wird und man ihre Verheißungen und Opfer mit ignorantem und bösem Lächeln achselzuckend abtut, wenn in ganzen Familien der Argwohn aufkommt, daß jene, die die Macht ausüben, der Vernunft und jeglichem Appell gegenüber taub sind und daß es keine Instanz gibt, an die man sich wenden kann, wenn dir allmählich klar wird, daß, was immer es an Wörtern im Lexikon geben mag, was immer die Königin sagt oder Parlamentskorrespondenten berichten, welche Bezeichnung das System sich selber auch immer gibt, um seine Schamlosigkeit und seinen Egoismus zu maskieren, wenn dir allmählich klar wird, daß SIE darauf aus sind, dich zu brechen, darauf aus sind, alles zu zerbrechen, dein Ererbtes, deine Fähigkeiten, deine Gemeinden, deine Dichtung, deine Klubs, dein Heim und, wo immer möglich, auch deine Knochen, wenn das den Leuten endlich klar wird, dann hören sie vielleicht auch in ihrem Kopf die Stunde der Attentate schlagen, der gerechtfertigten Vergeltung.
Aus: Bergarbeiter. In: Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen. Deutsch neu aufgelegt bei Fischer, Frankfurt/M. 2000

Der lange Satz eines kurzen Textes liest sich heute, März 2003, profetisch und für viele eindringlich deutlicher als früher. Die Erniedrigten, die Umstände, die zum Widerstand führen müssen, die Attentate, die finden wir gegenwärtig weniger in England oder anderen europäischen Ländern, aber grausamst und schrecklichst in Palästina und vielen anderen Ländern der sogenannten Dritten Welt. Die Herren der Welt, die Auserwählten, die Mächtigen üben ihre Macht dreckiger, gemeiner, blutiger, erfolgreicher aus. Wie lange noch? Wie lange noch muss sich das Denken in den Köpfen der Erniedrigten zusammenbrauen zur rechten Antwort gerechtfertigten Widerstands? Wann schlägt die Stunde?

Worte haben heutzutage ihre Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüßt. Die Medien übermitteln zumeist Lügen. Angesichts einer unerträglichen Welt können Worte anscheinend nur sehr wenig ändern. Staatsmacht ist konstitutionell taub geworden, was der Grund dafür ist - doch die Leitartikler vergessen das -, daß Terroristen auf Bomben und Flugzeugentführungen angewiesen sind.
Daß die Macht der Vernunft Tyrannei abschaffen könne, ist in Wirklichkeit eine Illusion gewesen. Und ebenso ist der Glaube, daß die Feder mächtiger sei als das Schwert, heutzutage ein Zeichen für eine relativ privilegierte Stellung. Worte werden systematisch dazu verwendet, Verwirrung zu stiften.
Doch sind es Worte, mit denen wir unsere Verwirrung und unsere Ohnmacht bekennen, unseren Zorn und unsere Visionen. Mit Worten benennen wir immer noch unsere Verluste und unsere Ausdauer, weil wir keine andere Zuflucht haben und weil Menschen für Worte unheilbar empflänglich sind und sich aus ihnen langsam und allmählich unser Urteil bildet. Dieses Urteil, vor dem sich die Mächtigen in der Regel fürchten, bildet sich langsam, wie ein Flußbett, aufgrund von Wortströmen. Doch Worte können zu solchen Strömen nur werden, wenn sie zutiefst glaubhaft sind.
Aus: Vermißt vor Kap Wrath. In: Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen. Frankfurt/M. 2000

Sowie sich die Aufmerksamkeit des Schriftstellers von Überlegungen zu Stil, Rhetorik oder verbalem Ruhm ablenken läßt, werden seine Worte, statt zu beinhalten, nur noch evozieren. Sowie er schlicht Fakten wiederholt, statt sich die Erfahrung mit ihnen vorzustellen, wird sein Schreiben sich auf Dokumentation reduzieren.
Aus: Vermißt vor Kap Wrath. In: Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen. Frankfurt/M. 2000

Der Schriftsteller sollte so weit als möglich durchdrungen sein von dem, worüber er schreibt. In der modernen Welt, in der jede Stunde Tausende von Menschen infolge von Politik sterben, kann Schreiben nirgends auch nur im entferntesten glaubhaft sein, wenn es nicht von politischem Bewußtsein und politischen Prinzipien durchdrungen ist. Schriftsteller, die weder über das eine noch das andere verfügen, bringen untopischen Schund hervor.
Aus: Vermißt vor Kap Wrath. In: Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen. Frankfurt/M. 2000

Wenn ein Schriftsteller nicht von einem Verlangen nach skrupulöser verbaler Genauigkeit getrieben ist, entgeht ihm die wahre Vieldeutigkeit der Ereignisse. (...)
Wenn seine Seiten abgerschlossen sind, fügen sich die reziproken Vieldeutigkeiten zu einem Mysterium. Mystifikationen schützen Macht. Mysterien schützen das Heilige. Jeder Schriftsteller, dessen Schreiben die Glaubwürdigkeit besitzt, von der ich spreche, hat sich von der schlichten Überzeugung bewegen lassen, daß das Leben selbst heilig ist. Damit fängt es überhaupt an.
Aus: Vermißt vor Kap Wrath. In: Begegnungen und Abschiede. Über Bilder und Menschen. Frankfurt/M. 2000

"Die Philosophie ist eigentlich Heimweh - Trieb überall zu Hause zu sein" (Novalis).
Der Übergang von einem nomadischen Leben zu einem seßhaften hat angeblich den Beginn dessen markiert, was später Zivilisation genannt wurde. Alsbald fing man an, all diejenigen, die außerhalb der Stadt überlebten, als unzivilisiert zu betrachten. Doch das ist eine andere Geschichte - eine, die in den Hügeln bei den Wölfen erzählt werden muß.
Vielleicht hat während der letzten anderthalb Jahrhunderte ein vergleichbar bedeutender Wandel stattgefunden. Niemals vor unserer Zeit sind so viele Menschen entwurzelt worden. Emigration, erzwungene oder gewählte, über nationale Grenzen hinweg oder vom Dorf zur Stadt, ist die fundamentale Erfahrung unserer Zeit. Daß die Industrialisierung und der Kapitalismus einen solchen Transport von Menschen in nie gekanntem Ausmaß und mit einer neuen Art von Gewalt erforderlich machen würden, war schon durch die Eröffnung des Sklavenhandels im 16. Jahrhundert prophezeit worden. Die Westfront im Ersten Weltkrieg mit ihren massierten Rekrutenarmeen war eine spätere Bestätigung derselben Praktik, auseinanderzureißen, zu versammeln, zu transportieren und in einem "Niemandsland" zu konzentrieren. Später folgten die Konzentrationslager, über die Welt verteilt, der Logik derselben, ständig geübten Praxis.
Alle modernen Historiker von Marx bis Spengler haben das zeitgenössische Phänomen der Emigration festgestellt. Weshalb noch weitere Worte verlieren? Um von dem zu flüstern, was verlorengegangen ist. Nicht aus Wehmut, sondern weil auf seiten des Verlusts die Hoffnungen geboren werden."
Aus: Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos. München 1986

Die moderne Umwandlung der Zeit aus einer Bedingung in eine Kraft begann mit Hegel. Für Hegel war die Kraft der Geschichte jedoch etwas Positives; einen optimistischeren Philosophen dürfte es schwerlich gegeben haben. Später unternahm Marx es dann, zu beweisen, daß diese Kraft - die Kraft der Geschichte - den Handlungen und Entscheidungen des Menschen unterworfen war. Der allgegenwärtige Traum in Marx' Denken, die ursprüngliche Opposition seienr Dialektik, rührt von der Tatsache her, daß er gleichzeitig die moderne Umwandlung der Zeit in die beherrschende Kraft akzeptierte und diese Vorherrschaft wieder in die Hände des Menschen legen wollte. Daraus erklärt sich, weshalb sein Denken - in sämtlichen Bedeutungen des Wortes - gigantisch war. Die Größe des Menschen - seine potentiellen Fähigheiten, seine künftige Macht - würde, so glaubte Marx, das Zeitlose ersetzen.
Aus: Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos. München 1986

Gäbe es den Prozeß des Alterns nicht, wären die zeit und ihr Verstreichen nicht unmittelbar dem Code des lebens eingegeben, dann wäre die Reproduktion unnötig, und es gäbe keine Sexualität."
Aus: Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos. München 1986

Der Konsumismus, der längst die mächtigste und alles vereinnahmende Ideologie auf unserem Planeten ist, will uns glauben machen, Schmerz sei wie ein Unfall, gegen den wir uns versichern könnten. Das ist der Grund, warum diese Ideologie so gnadenlos ist.
Natürlich weiß jeder, dass Schmerz zum Leben gehört, und jeder möchte ihn am liebsten vergessen oder relativieren. Alle Mythen vom Verlust des Goldenen Zeitalters, in dem es noch keinen Schmerz gab, sind letztlich Versuche, denSchmerz, der uns widerfährt, zu relativieren. Dasselbe gilt für die Erfindung der Hölle, jenem benachbarten Schmerz-als-Strafe-Reich. Und für die Entdeckung der Opfergabe. Und später, viel später, auch für das Prinzip der Vergebung. Man könnte behaupten, am Anfang der Philosophie habe die Frage gestanden: Warum gibt es Schmerz?
Aus: Konsum und Schmerz. Betrachtungen über das Wesen der Tyrannei. LE MONDE DIPLOMATIQUE, Februar 2003, Nr. 6980

Wäre es nicht besser, wenn wir einsähen und offen erklärten, dass wir in dem tyrannischten - weil überwältigendsten - Chaos leben, das es je gab? Es ist nicht einfach, das Wesen dieser Tyrannei zu erkennen, denn deren Machtstruktur (die von den 200 größten multinationalen Unternehmen bis zum Pentagon reicht) ist verzahnt, aber diffus, diktatorisch, aber anonym, allgegenwärtig, aber ortlos. Ihre Tyrannenherrschaft regiert von offshore, und zwar nicht nur geldpolitisch gedacht, sondern auch im Sinne einer politischen Kontrolle jenseits der eigenen. Ihr Ziel ist es, die gesamte Welt zu entorten. Ihre ideologisch Strategie - und daneben erscheint Bin Ladens Strategie wie ein Märchen - zielt darauf ab, das Bestehende derart zu untergraben, dass sich alles ihrer spezifischen Form von Virtualität anverwandelt, in deren Reich - und das genau ist das tyrannische Credo - der Profit nie versiegt. Das klingt dumm. Tyranneien sind dumm. Diese hier zerstört - und zwar auf allen Ebenen - das Leben auf dem gesamten Planeten, auf dem sie agiert.
(...)
Gegen diese Tyrannei ist jede Form von Widerstand vorstellbar.
Aus: Konsum und Schmerz. Betrachtungen über das Wesen der Tyrannei. LE MONDE DIPLOMATIQUE, Februar 2003, Nr. 6980

Die Unfähigkeit der Engländer, sich sprachlich mitzuteilen, ist Gegenstand vieler Witze und wird oft als Ausdruck von Puritanismus und Verklemmtsein gedeutet, als Nationalcharakter sozusagen. Dies verschleiert einen ernsteren Hintergrund: Weite Teile der englischen Arbeiter- und Mittelklasse sind aufgrund ihrer kulturellen Benachteiligung unfähig, sich verbal auszudrücken. Ihnen wird die Möglichkeit genommen, ihr Wissen in eigene Gedanken zu übersetzen. Sie haben keine Vorlagen, in denen Worte Erfahrungen klären. Die mündliche Überlieferung ihrer Sprichwörter ist seit langem zerstört - und sie haben, obwohl sie im engen Wortsinn alphabetisiert sind, keine Gelegenheit bekommen, das kulturelle Erbe der Schrift zu entdecken.

Das Problem betrifft jedoch nicht nur die Literatur. Jede Kultur ist ein Spiegel, in dem sich das Individuum erkenne kann - oder zumindest die Teile seiner selbst, die sozial zulässig sind. Die kulturell Benachteiligten verfügen über weit weniger Möglichkeiten, sich selbst zu erkennen. Ein großer Teil ihrer Erfahrungen - besonders im emotionalen und introspektiven Bereich - muß für sie unbenannt bleiben. Ihr Medium der Selbstverwirklichung ist so vorrangig eine Form von Beschäftigtsein. Das ist einer der Gründe dafür, warum die Engländer derartig viele Hobbys pflegen. Die Arbeit im Garten oder an der Werkbank kommt für sie einer befriedigenden Selbstbefragung am nächsten.
Aus: Geschichte eines Landarztes. München, 1998 (Orig. 1967: A Fortunate Man. The Story of a Country Doctor) (Gemeinsam mit Jean Mohr, dem Fotografen)

Ich bin so versucht, John Berger derart zu loben und zu empfehlen, dass ich fürchte, damit einen ungewollten Kontereffekt zu erzeugen; Überschwengliches wird allzu leicht als unglaubwürdig Schwärmerisches gedeutet - und meist nicht zu Unrecht. In seiner "Geschichte eines Landarztes" zeichnet der Autor aber nicht nur eine Person in ihren Rollen, sondern erkundet voll Liebe und Respekt, gescheit auslotend, die subjektiven wie objektiven Faktoren, die die Rollen bestimmen und formen, die die Hintergründe für Denkbilder, Einstellungen und Handlungen bilden. Dieser Essai liefert mehr als X soziologische Studien, obwohl er natürlich das gar nicht intentiert und es auch nicht nötig hat in Wettbewerb zu treten. Vor allem die Betrachtungen zur Rolle des Arztes in der Gesellschaft sind faszinierend, erleuchtend. Kurz: ein alter Text von Berger, der höchst kostbar immer noch und immer wieder einen Lektüregewinn darstellt.