Haimo L. Handl

Friedrich Nietzsche - zum 150. Geburtstag

Manche Geister und Werke haben es schwer, wenn auch oft aus entgegengesetzten Gründen: viele werden vergessen, einige bleiben derart in Erinnerung und am Leben, daß ihre schiere Omnipräsenz inflationär wirkt - nicht eigentlich auf ihr Werk, aber auf die Rezpetion der Gegenwärtigen. Popularität kann leicht entwertend wirken; sie zwingt einen zu gesteigerter Sorgfalt, Sensibilität und Arbeit, gilt es doch, das akkumulierte Umfeld, die vielen, vielen Deutungen, Kommentare, Bewertungen, ja Vereinnahmungen, herauszufinden, wegzuschieben, um einen "eigenen" Blick auf das Werk und den Autor dahinter zu gewinnen.

Popularität kann auch leicht zu einer Irritation führen, der sich manchmal gerade jene nicht zu entziehen vermögen, die sonst das Werk schätzten, mit ihm umgingen. Jene wenden sich dann leicht dupiert ab, wollen mit der Masse, die wie im Ausverkauf jetzt die Billigversionen, Highlights, annotierte und kommentierte Auswahlschriften und Anthologien fast einer Mode gleich einheimsen (und dabei beim Verramschen mitmachen), nicht sich gleichsetzen. Das heißt, gerade die, welche sich nicht nur oberflächlich oder vordergründig mit einem substantiellen Werk auseinandersetzen, sehen sich plötzlich Problemen und Schwierigkeiten ausgesetzt, welche sie vorher nicht so hatten.

Die Unzahl von Fachtagungen, Seminaren und Symposien, ganz zu schweigen von Artikeln und Büchern über Nietzsche soll nicht dazu führen, einfach die Achseln zu zucken und es dabei bewenden lassen. Es lohnt, den Schnickschnack der Kulturindustrie abzusondern von den "vernünftigen" Sätzen, die trotzdem, auch heute, noch zu lesen sind. Man soll den Widerspruch, der leicht die eigene Eitelkeit schürt, anders meistern, auch wenn man negativ staunt oder wenig überraschend bestätigt wird durch das Ritual der Gedenkarbeit, oft eher einer Leichenfledderei entsprechend, als einem Ge- und Bedenken. Es soll auch weniger wichtig sein, sich mit schnodrigen Jungphilosophen oder Theoretikern herumzubalgen, wenn sie heute noch die blöde Kurzformel vom "Naziphilosphen" in den vollen Mund nehmen oder das Werk meinen charakterisieren zu können, indem sie auf die Kindheit, die Familie, des Heranwachsenden Probleme verweisen. Auch mehrere tausend Seiten Auswertung von Notizen und frühen Aufzeichnungen sind keine Garantie, das nicht-systematische Gedankengebäude (besser) zu verstehen.

Man soll seinem Brechreiz nicht gleich nachgeben, wenn man die Perversion, die Umkehrung von der unguten Seite feststellen muß, daß Theologen und Religionsphilosophen sich den Nietzsche einverleiben, ihn zähmen und zurechtkanonisieren, seinen Fluch auf das Christentum, diese Skalvenreligion und Unmenschenmoral umdeuten, die Frechheit perpetuieren, das Christentum sei allumfassend, niemand käme ihm aus, ja, Gegnerschaft beweise nur Bindung etc. Das sagt mehr über die Kirchen, die Religionsfachleute, die Büttel der Antiemanzipation aus, als über Nietzsche.

In der Überbewertung der Sozialisationsfaktoren, des Kontextes, des Umfeldes liegt auch ein Versuch, das genuin eigene, das Nietzsche in seinem Werk, ob gegen oder trotz, ob für oder nach, artikulierte, kreierte, umzuformen, einzugliedern, abzuschwächen, kurz, ihn "brauchbar" zu machen. Hier funktioniert derselbe Mechanismus, dieselbe Untat, die auch anderen, die über die Norm ragten, zuschlechte kam: man zieht einem Gebiß die Fangzähne, indem man es in die Kulturvitrine plaziert, man entgiftet den gefährlichen Stoff, indem man ihn auf den Sockel stellt, zum Klassischen stilisiert und abhebt vom Leben.

Nietzsche wurde nicht nur von den Nazis gebraucht, mißbraucht, sein Werk wurde nicht nur von seiner Schwester "verwaltet", vefälscht, manipuliert, "managed", es wurde auch, nach dem Krieg, als Weimar Weimar-Ost geworden war, der allgemeinen Wissenschaft entzogen, nur zögernd zugänglich gemacht (was mit ein Grund ist, weshalb die historisch-kritische Gesamtausgabe von Colli und Montinari erst spät und zuerst auf Italienisch erschien).

Hier soll keine Apologie geführt werden. Die gängigen Klischees sollen hier erst gar nicht korrigiert werden; ob sich so eine Aufgabe lohnte, kann ich nicht beantworten. Vielmehr sollen einige Gedanken, einige Aspekte, die mir charakteristisch erscheinen, in Erinnerung gerufen werden.

Gäbe es einen Fortschritt in der Philosophie, meß- und bewertbar wie in der Naturwissenschaft oder Technik, wir hätten kein Problem mit alten Philosophen und deren Werk. Es wäre relativ kleiner Stoff für Philosophiegeschichte.

Trotz rasanter wissenschaftlicher Entwicklung, trotz prosperierender Kulturtätigkeit und Kunstkreation stellen sich Fragen in der Philosophie, die nicht neu sind. Offensichtlich gibt es Antworten, die veralten und solche, die "übersetzbar" scheinen, die auch heute, in einen anderen Kontext gesetzt, nicht sinnlos klingen (scheinen), die Stoff für Reflexion, Argument, Diskurs hergeben.

Nietzsche, der Umwerter, zeigt in seinem Werk, sogar dort, wo er widersprüchlich ist, wo er versagte, das Abenteuer des eigenen Denkens, den Versuch, selbst Mensch zu sein, zu werden, was man ist, in einem paradoxen Sinn, indem nicht einfach hingenommen wird, was man soll, sondern unternommen wird, was man will. Er war ein vehementer Kritiker der Moderne, als solcher ein scharfer Aufklärer. Er entwickelte eine Utopie, ein Ziel, das als Minderung seines erkannten Nihilismus gesehen werden kann: Er relativierte nicht nur, er wies nicht nur die absolute Wahrheit zurück, er zerstörte nicht nur den Glauben an Kultur, Moral, Tugend und dergleichen. Er beließ es nicht bei diesem Perspektivismus und Subjektivismus, er kulminierte sein Werk in der Idee des Übermenschen, dessen, der nachfolgt, der die Macht, den Willen zur Macht anders verstünde, praktizierte, als er es vermochte. Das heißt, er schuf einen Heros, eine Instanz über sich, ein Programm, ein Anzuvisierendes. Darin, als Utopist, blieb er, wie manche kritisierten, Metaphysiker. Nietzsche, der Antimetaphysiker war zugleich der letzte Metaphysiker.

Seiner Kritik der Moderne ist nicht Misanthropie oder allgemeine Menschenverachtung zugrundeliegend, wie einige Feuilletonisten oder verschreckte Christen triumphierend vermeinen, sondern Unerschrockenheit, die sich nicht von moralischen Imperativen verleiten läßt. Seine Kulturkritik muß nur einmal mit der von Freud in Verbindung gebracht werden, um die Tiefe und Konsequenz, allerdings auch die Bitternis des Nichttrostes, zu erkennen.

Es vermindert nicht seine Leistung, wenn der Satz "Gott ist tot" heute relativiert wird, wenn man feststellt, daß Ähnliches schon früher, wenn auch nicht in Nietzsches Heftigkeit, gedacht und gesagt wurde. Gerade das Aufspüren und Bedenken dieses Tradition könnte aufschlußreich zeigen, daß Nietzsche nicht isoliert, nicht einzeln, nicht alleine war und ist. Nietzsches Absage an das Christentum war bestimmt durch seine Abscheu vor einer Einrichtung, einem Erbe, das seinen Ansichten und Überzeugungen von "Menschlichkeit" widersprach. Er, der so früh schon als Psychologe die Dürftigkeit, die Unmöglichkeit, die Verlogenheit der Religion(en) erkannte, mußte sie und ihre Vertreter (Priester waren für ihn Verbrecher) nicht nur ablehnen, sondern verachten. (Daraus eine allgemeine Misanthropie zu zimmern zeigt nur die Unverschämtheit, die Christen stellvertretend für die Menschen, die Menschheit, zu setzen.) Aber wichtiger als diese Kritik, dieser Fluch, ist seine Auseinandersetzung mit der Gesellschaft, der Kultur. Ohne Gott, ohne Wahrheit stellte sich die ungeheuerliche Aufgabe, selbst Wahrheit zu zeugen, selbst Gott zu werden und zu sein. Dieser Anspruch war sogar Mystikern im Abendland nicht unbekannt: Meister Eckhart war ein gottloser Mystiker, der erkannte, daß Gott werde und vergehe, der allen Ursprung im Nichts sah. Und es entspricht nur der Logik des Denkens Nietzsches, daß er kein System schuf, der Wissenschaft mißtraute und dem Sinnlichen, der Kunst einen Vorrang einräumte, wie kaum ein Denker sonst.

Die Offenheit, die Unmöglichkeit, Sicherheit in göttlicher Instanz zu finden, zwingt zum Fragen und Erkennen des eigenen, des Menschlichen. Nietzsches Amor fati, seine Daseinsorientierung, die Verweigerung einer Jenseitsgläubigkeit, ist Fundament seines "Humanismus", seiner Menschlichkeit. Seine Lebensfreude, die Bejahung ist stärker als alle Verneinung, als alle Unterodnung unter das Gegebene, das Seiende. Nietzsches Umwertung kann auch als Versuch gelesen werden, den Nihilismus nicht wegzufiltern oder zu kaschieren, ohne in ihm unterzugehen.

Eine Anmerkung zur Kultur möchte ich mit einer Überlegung von Freud verbinden, um wenigstens einen mir wichtigen Aspekt näher herauszustellen. "Zum Pessimismus der Stärke" schreibt Nietzsche als Vision einer neuen Kultur, einer zu erreichenden:

    "In dem inneren Seelen-Haushalt des primitiven Menschen überwiegt die Furcht vor dem Bösen. Was ist das Böse? Dreierlei: der Zufall, das Ungewisse, das Plötzliche. Wie bekämpft der primitive Mensch das Böse? - Er konzipiert es als Vernunft, als Macht, als Person selbst. (...) In summa: man unterwirft sich ihm -: die ganze moralisch-religiöse Interpretation ist nur eine Form der Unterwerfung unter das Böse. (...) Nun stellt die ganze Geschichte der Kultur eine Abnahme jener Furcht vor dem Zufalle, vor dem Ungewissen, vor dem Plötzlichen dar. Kultur, das heißt eben berechnen lernen, kausal denken lernen, prävenieren lernen, an Notwendigkeit glauben lernen. Mit dem Wachstum der Kultur wird dem Menschen jene primitive Form der Unterwerfung unter das Übel (Religion oder Moral genannt), jene "Rechtfertigung des Übels" entbehrlich. (...) Hat er früher einen Gott nötig gehabt, so entzückt ihn jetzt eine Welt-Unordnung ohne Gott, eine Welt des Zufallls, in der das Furchtbare, das Zweideutige, das Verführerische zum Wesen gehört."

So eine anders böse Welt wäre eine anders kultivierte. Die Vorstellung von Kultur als per se etwas Gutem oder als etwas Vollkommenen, sozusagen einer Garantie für Menschschlichkeit, widersprach auch Freud. In seinem Werk "Das Unbehagen der Kultur" setzt er weniger grelle, weniger pathetische Worte ein wie Nietzsche, korrespondiert aber zu dessen pessimistischer Sicht. Freud versagte sich den Trost des Gläubigen. Ja, Freud versuchte, obwohl er eigentlich gegen die Kultur dachte und gerichtet (kulturfeindlich) war, die Notwendigkeit der Kultur zu ergründen. Ähnliches lese ich aus Nietzsches Sätzen. Bei Freud heißt es: "Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert, weil das Individuum kaum imstande war, sie zu verteidigen." "Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht."

Freud fragt, weshalb unsere Verwandten, die Tiere, keinen Kulturkampf zeigen. Er betont, er wisse es nicht, meint aber, daß es Jahrhunderttausende brauchte, bis die Bienen, Ameisen und Termiten "jene Verteilung der Funktionen, jene Einschränkung der Individuen gefunden haben, die wir heute bei ihnen bewundern." Ganz kühl merkt er noch an, daß diese Bewunderung nicht miteinschließt, so leben zu sollen oder müssen.

Dieses Beispiel weist auf einen Kern hin: Der Einzelne und das Kollektiv, die Vorgegebenheit, das Unterwerfen oder die Erfahrung des eigenen Lebens. Nietzsches Massenverachtung ist mit der Entrüstung gleichzusetzen, die einer äußerte, verlangte man von ihm, wie eine Termite im totalitären Staat leben zu müssen, sein Glück nur in der Funktionserfüllung zu finden. Hier liegt ein Widerstand, von hier sticht ein Stachel gegen die Vereinnahmung, gegen das, was früher Skalverei genannt wurde.

Es steht zu vermuten, daß allzuviele schon so eingepaßt sind, daß die Sprache von Nietzsche nur noch gefiltert sie erreicht oder annotiert, bewertet bzw. abgewertet. Das Szenario des Gedenkens als Bedenken möchte ich schließen mit einer Anmerkung, welche sich im 84. Aphorismus der Minima Moralia von Theodor W. Adorno findet, wo dieser, zur Eigenart des Bürgers und Intellektuellen sprechend, meint: "Man könnte aber Nietzsche so wenig in einem Büro, in dessen Vorraum die Sekretärin das Telefon betreut, bis fünf Uhr am Schreibtisch sich vorstellen, wie nach vollbrachtem Tagewerk Golf spielend."

VOLKSSTIMME 43/1994