Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # Ausgabe 8/2000

Haimo L. Handl

Anonymität und Neue Medien

Anonymität ist in Verruf geraten. Redliche Bürger unterstützen sogenannte Rechtsschützer, besorgte Politiker, eifrige Polizisten und Geheimdienstler in deren Bemühungen, die Möglichkeit anonymer Kommunikation weiter einzuschränken mit der simplen Aussage: "Ich habe nichts zu verbergen". Der Rückschluß lautet: wer für Anonymität eintritt, hat was zu verbergen. Wer verbirgt, ist gefährlich und verdächtig. Mit dieser Haltung wird nicht nur der Weg zu einer Denunziationsgesellschaft weiter bereitet, sondern auch bürgerliche Freiheiten, auf die gerade die "alten" Demokratien des Westens stolz waren oder sind, auf's Spiel gesetzt.

Es geht auch nicht nur um Anonymität im Internet, obwohl viele Anwälte der guten Sache die Bevölkerung das glauben machen wollen. Es geht um ein weiteres Glied in einer dichter, strenger werdenden Kette von Maßnahmen, die die bürgerlichen Freiheiten erodieren und einschränken.

Privatsphäre bildet sich im Zusammenhang mit Freiräumen, die auch Anonymität bedingen. Privatheit als Kern freiheitlicher Demokratien ist durch den Anspruch von mehr Offenheit als Öffentlichkeit gefährdet und schafft schlussendlich Unsicherheit anstatt Sicherheit. Doch im Namen der Sicherheit wird diese so wichtige Errungenschaft unterminiert.

Halten wir fest: Privatsphäre, Privatleben und sein Schutz sind so wertvolle Rechtsgüter, dass sie sogar in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Art.12) geschützt werden. Dort finden sich auch die Verbriefungen der Gedanken- und Gewissensfreiheit (Art. 18) und, ganz wichtig, des Rechts auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung sowie "über Medien jeder Art (!) und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten" (Art. 19).

Das First Amendment der amerikanischen Verfassung ist kurz und bündig und spricht in seinem Geist noch radikaler diese bürgerlichen Freiheiten aus. In dieser Tradition wird zum Beispiel in der Debatte um Einschränkungen der Anonymität von Kundigen die gute, alte Tradition anonymer Schriften hervorgehoben. Wesentliche Bücher und Schriften der Gründerväter der amerikanischen Republik sind anonym oder unter Pseudonymen erschienen; man denke an Thomas Paine's "Common Sense", die unter dem Namen "An Englishman" erschienen, oder die "Federalist Papers", die unter dem Namen "Publius" veröffentlicht wurden. Aber auch Cato's Briefe, eine Sammlung von Essais über die Freiheit usw. Immer war die Möglichkeit der anonymen oder pseudoanonymen Publikation wesentlich für den freiheitlichen Fortschritt der Gesellschaft.

Die Gegenbeispiele sind bekannt: Überwachung, Kontrolle, Verfolgung, Prävention. Je geschlossener die Gesellschaften ihren Überwachungsapparat einsetzen konnten, desto "ruhiger" und "sicherer" war das Land, allerdings im Sinne einer negativen Befriedung, einer Friedhofsruhe. Das wirkte sich nicht nur polizeilich und politisch aus, sondern auch kulturell. Der Rückstand vieler europäischer Länder geht auf dieses Manko an Liberalismus und Liberalität zurück.

Heute wird im Zeitalter der vernetzten Kommunikation mit ihrer Grenzenlosigkeit eine neue Gefahr beschworen, um alte Wünsche illiberaler Art wieder umsetzen zu können. Die Gefahrenmomente, die es zu kontrollieren gilt, werden leichtfertig vorgeschoben. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Uninformiertheit ein Dilemma. Beides zusammen eine Katastrofe. Genau das geschieht jetzt mit den vereinten Bemühungen, Anonymität zu kriminalisieren und einzuschränken, wenn nicht gar abzuschaffen. Ein Bärendienst für uns, ein Erfolg für die Kontrollore.

Anonymität ist in vielen Bereichen der Wirtschaft und des sozialen Lebens schon erodiert. Anstatt mehr Privatsphäre wiederherzustellen und zu ihrer Sicherung beizutragen, werden gegenteilige Anstrenungen zu mehr Kontrolle unternommen. Hier wirken kurzsichtige Profit- und Staatsinteressen unheilvoll zusammen.


Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948

Artikel 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

Artikel 18
Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.

Artikel 19
Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

First Amendment (der amerikanischen Verfassung)
Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press, or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.