Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # Ausgabe 7/2000

Haimo L. Handl

Internetsucht

Es war ja vorhersehbar und deshalb nicht überraschend, dass nach kurzer Zeit des sich einstellenden Massenerfolges des Internets Experten auftraten, die vor den dunklen Gefahren dieses Mediums warnten. Sie taten dies nicht wie die Naiven oder Novizen, sondern mit der Autorität der Wissenschaft. Vornehmlich Psychologen und Soziologen fingen an zu predigen und, na klar, ihre Hilfe anzubieten. Mittels schneller Befragungen, die meist den üblichen Standards sozialwissenschaftlicher Empirie nicht standhalten, wurden oder werden Daten erhoben, die jene Antworten produzieren, die man zur Legitimierung der eigenen Hilfsofferten benötigt: die self fulfilling prophecy funktioniert in diesem Bereich reibungslos!

Sucht heißt nach gängigem Verständnis eine Abhängigkeit. Diese kann physisch oder psychisch sein; immer geht es darum, dass das Verhalten sich der rationalen Kontrolle entzieht und in bestimmten Graden "selbständig" oder unkontrolliert agiert.

Als Begleiterscheinung der Lesekultur kennen wir die Leselust oder Büchersucht: die Termini von Bücherratten und -würmern sind bekannt, ebenso die berühmten Zeugnisse von Literaten wie Sartre (Die Wörter) oder Proust (Auf der Suche der verlorenen Zeit). Doch hier wurde oder wird "Sucht" nicht negativ konnotiert verstanden. Lesen ist eine hochgradig solitäre Aktivität. Der Leser ist alleine mit dem Text. Aber weil Lesen als hochkulturelle, aktive Leistung verstanden wurde, gewann diese Sucht nie den Charakter einer sozialen Epidemie.

Anders bei den modernen Mediensüchten des Fernsehen, Videokonsums und nun des Internets. Hier wird allein schon vom Zeitaufwand her geschlossen, dass die "User" gefährdet seien, sozial verarmten und vereinsamten, ihr Augenlicht schädigten, ihre Sinne abstumpften usw. usf.

Die typisch amerikanischen Expertisen gemahnen eher an die Techniken früherer Priesterkasten oder Religionsstifter: man pflanzte den Leuten Ängste und Schuldgefühle ein, definierte Praxen als "sündig", "krank" oder "gefährlich" und bot dann den "Opfern" seine Hilfe an. War und ist immer ein erfolgreiches Geschäft.

Wenn jemand sich über die Definitionen von Internetsucht informieren will und darüber, was die geschäftstüchtigen Experten zur Bewältigung offerieren, sehe mal in die web sites des Center for On-Line-Addiction (www.netaddiction.com) oder des Psychologen David Greenfield (www.virtual-addiction.com).

Mit den "Standards" für Sucht, wie von diesen "Institutionen" oder Experten verwendet, ist eigentlich die Mehrheit als "Suchtopfer" zu sehen. Diese ganze Politik pflegt eine schamlose Opferkultur und entspricht selbst der gesteigerten Entfremdung einer etwas orientierungslos gewordenen Gesellschaft.

Gesunder Menschenverstand bzw. "common sense" weiß seit je, dass alles im Übermaß oder unrechten Maß getan oder genossen negative Auswirkungen haben wird, ganz gleich, ob es sich um Drogenkonsum (Wein, Kaffee, Nikotin) handelt oder Medien. Aber das ist nicht neu.

Hinter der beschworenen Internetsucht liegen, wenn sie denn nach definierten Kriterien festzustellen wäre, soziale Probleme. Werden diese gelöst, verschwindet oder minimiert sich das Phänomen Internetsucht.