Haimo L. Handl

Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # Ausgabe 6/2000

Internet und Informationskultur



Die "informierte Gesellschaft" gibt es schon lange. Genauer gesagt, seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Es fallen einem sofort die bedeutenden, Epoche prägenden Schriften von Norbert Wiener (Cybernetics, 1948), C. E. Shannon und W. Weaver (Mathematical Theory of Communication, 1949), Mortimer Taube (Computers and Common Sense - the Myth of Thinking Machines, 1966) oder Karl Steinbuch (Die informierte Gesellschaft, 1966), um nur die prominentesten zu nennen, ein.

Wenn damals schon von "informierter Gesellschaft" geschrieben wurde, worin unterscheidet sich die heutige? Soll der Begriff "Informierte Gesellschaft" bzw. "Informationskultur" kein Klischee, also leerer Platzhalter sein, müsste man sich klar machen (können), was er bedeutete oder bedeutet. Dazu hilft die Klärung einiger formaler und inhaltlicher Aspekte.

"Information ist Anfang und Grundlage der Gesellschaft", leitete Steinbuch seine Arbeit ein. Gesellschaft, auch frühzeitliche, ist ohne Information und ihre Verarbeitung, Kommunikation, undenkbar. Offensichtlich gibt es quantitative und qualitative Unterschiede, um eine bestimmte Gesellschaftsform als "informierte" zu apostrophieren oder nicht.

Kriterien der informierten Gesellschaft sind Zugang und Verfügbarkeit zu Informationen und Wissen sowie dem Austausch von Wissen. Diese wieder werden bestimmt durch Umfang und Geschwindigkeit. Die Euphorie der oben genannten Forscher und der meisten ihrer Nachfolger gründet in der Überzeugung oder Annahme, dass die Informationsbanken "allen" Menschen zugänglich sein werden, wodurch die Menschen durch Methoden belehrt werden, "die das Lernen zum Vergnügen machen und vom gegenwärtigen Stil der Massen- und Bestrafungsausbildung weiter entfernt sind als ein Elektromotor von einer Tretmühle" (Steinbuch). Von der raschen Verfügbarkeit wird eine Wandel der Qualität des Wissens und damit verbunden der Handlungsmöglichkeiten der Menschen erwartet. Die informierte Gesellschaft unterscheidet sich in dieser Vision von den früheren durch die hohe Bedeutung der Information gegenüber den bisherigen Gütern, "Reichtümern". Eine Orientierung auf Wissen, auf Immaterialität stellt sich ein.

Der Unterschied der Internetgesellschaft zu dieser "informierten" (Nachkriegs)Gesellschaft besteht in der damals nur vage visionierten Interaktivität und im stark ausgeweiteten Zugang. Die technischen Neuerungen stellten einen Zustand her, der ideologisch und politisch nicht geplant war. Die Auswirkungen spüren wir tagtäglich: Ordnungsrufe, Forderungen nach Kontrolle und Zensur sind an der Tagesordnung. Nicht nur Regierungen sind überfordert. Viele Verunsicherte sehen in der gegenwärtigen Informationsgesellschaft ein Übel. Geschichtlich drängt sich der Vergleich zu den Ikonoklasten und Inquisitoren, denen der Buchdruck ein Greuel war, auf. Die Hysterie beweist nur die Brisanz der Veränderungen und das Potential der Entwicklungsmöglichkeit weit über den technischen Bereich hinaus: Veränderung der Kommunikationsweisen und damit der sozialen Strukturen, also schlussendlich der Gesellschaften.

Die heutige Informationsgesellschaft ist am Weg, wirklich eine zu werden, obwohl die meisten Regierungen krampfhaft diesen Prozess zu behindern versuchen, indem sie nur bestimmte Entwicklungen fördern bzw. andere durch Regeln, wie sie im 19. Jahrhundert noch vernünftig schienen, zu kontrollieren versuchen. Wie bei den früheren Innovationen wird sich der Wandel aber nicht aufhalten lassen.