Haimo L. Handl

Netcult  -  Kolumne im COMPUTER JOURNAL  # 7-8/2001



Echtzeit versetzt

Die elektronische Post, die e-mail, hat nicht nur den Geschäftsverkehr, die übliche Korrespondenz verändert, sondern auch den privaten früheren Briefaustausch. Eine Neuerung erfuhr das Ganze durch die direkte gleichzeitige Kommunikationsmöglichkeit, dem sogenannten instant messaging, wobei man dann von Kommunikation in Echtzeit spricht, ähnlich dem guten alten Gespräch von Angesicht zu Angesicht, das ja seit je in Echtzeit stattfindet, sogar in echter Anwesenheit der beteiligten Kommunikationspartner.

Was heute gestelzt "Echtzeit" genannt wird, war spätestens seit der Nutzung des Telefons gegeben: Beteiligter A war in der Lage, direkt und persönlich mit Beteiligtem B gleichzeitig zu kommunizieren. Vor dieser technischen Erfindung war Gleichzeitigkeit, was man später eben "Echtzeit" nennen sollte, nur bei direkter Anwesenheit möglich. Mit dem Telefon erweiterte sich der direkte persönliche Kommunikationsraum: Gleichzeitigkeit war nicht mehr an Anwesenheit gebunden.

Versetzte Kommunikation war jede, die nicht gleichzeitig stattfand, in der also der Sender eine Nachricht formulierte, sie absandte und der Empfänger sie später, meist an einem andern Ort, las. Dieses Prinzip wurde auch durch moderne Medien wie den Fernschreiber, das Fax (Telefacsimile) oder die e-mail beibehalten. Der Sender sandte seine Botschaft, die beim Empfänger deponiert wurde (wie früher der Briefkasten oder Fernschreiber bzw. Faxgerät oder Anrufaufzeichner der Speicher des e-mail-Kontos), bis sie abgeholt (abgerufen, gelesen) wurde. Auch die telefonisch übermittelten Kurznachrichten, die berühmten SM des SMS (short message service) entsprechen diesem "alten" Prinzip.

Anders läuft es im "Chat" oder "instant messaging": hier sind die Kommunikationspartner gleichzeitig am Kommunizieren, wie beim Telefon. Durch die jetzt schon passabel hohen Übertragungsraten, die hohe, billige Speicherkapazität können auch von Privaten nicht nur Texte "in Echtzeit" ausgetauscht werden, sondern auch Ton, Bilder, Videos, was die Kommunikation "persönlicher" macht: man braucht sich nicht mehr der "smilies" bedienen, um seine Emotionen anzuzeigen, das Gegenüber vermag einen zu sehen oder hört, wenn derzeit auch meist etwas dürftig, die Stimme.

Instant Messaging sei schneller als e-mail, sei direkter, sei kommunikativer. Damit es gut eingesetzt werden kann, muss man wissen, wer online ist, wen ich anwähle, damit sie oder er einsteigt in die direkte, instante Kommunikation. Dazu gibt es Listen, in die ich Kontakte auswähle (einwähle), die anzeigen, wenn sie online sind. Praktisch, nicht? Das ganze ist ohne Verabredung oder grob fixierte Kommunikationszeiten nur dann machbar, wenn man seinen Computer mittels flat rate dauernd am Netz hält. Auch drückt sonst der Kostenfaktor auf den Kommunikationsablauf - und da die meisten weniger schnell tippen als reden oder quatschen, reduziert sich der Kommunikationsstil oft auf Stereotypen, Kürzel und Kurzsätze. Das scheint fast niemanden zu stören. Meist geht es auch nicht um Informationsvermittlung oder eigentlichen Nachrichtenaustausch, sondern um die soziale Funktion, die auch der small talk erfüllte: man tauscht Zeichen der Freundlichkeit aus, bestätigt sein Dasein oder Dabeisein, tankt emotional Rückmeldungen symbolischer, sozialer Art, hört oder sieht Komplimente, erwidert sie, frau flirtet oder schäkert; kurz, frau oder man erweitert ihren oder seinen realen Kommunikationsraum und übt sich in "Sozialität".

Dass es meist weniger um handfeste Informationen geht, zeigt schon ein Überfliegen einiger Protokolle solcher Sessionen, erst recht, wenn es Gruppenkommunikationen (chats) sind. Manchmal plaudert man nur, um sich einen späteren "ernsthaften" Austausch zu vereinbaren.

In vielen Betrieben wird das Chatten oder instant messaging nicht gern gesehen, weil befürchtet wird, es mindere die Produktivität. Es wird sich einspielen, wie das e-mail: nach einer Erkundungsfase folgt die Alltäglichkeit. Zur Zigarettenpause, dem Kaffee kommt jetzt die Maschine, der Schirm und das Geplauder über die Leitungen: in Echtzeit!