Haimo L. Handl
Netcult - Kolumne im COMPUTER JOURNAL # 5/2001
Offener Verkehr
Der Brief als Kommunikationsmittel hat eine lange Geschichte; schon früh war er ein Privileg nicht nur "Schriftkundiger", sondern auch Kompetenter: nicht jeder durfte schreiben oder nahm sich das Recht dazu nur wegen außerordentlicher Gründe. Dies hing zusammen mit der sozialen Ordnung der Gesellschaft und der Technologie der Kommunikationsmittel: sie war teuer und aufwendig.
Als die Postkarte eingeführt wurde, war auch den "niederen Ständen" bzw. der allgemeinen Bevölkerung ein billiges Kommunikationsmittel gegeben, allerdings um den Preis der Offenheit: die Karte war von jedem lesbar und eignete sich nicht für vertrauliche Nachrichten.
Damals war es auch nicht üblich, Fremde einfach anzuschreiben, schon gar nicht persönlich; erst relativ spät gewöhnte man sich an unpersönliche Massenzusendungen.
Die elektronische Post, die electronic mail oder, wie es heißt, die e-mail, scheint einen ähnlichen sozialen Entwicklungsweg zu gehen: zuerst Privileg einiger weniger, aufgrund des technologischen Standards. Mit Veränderung dessen, mit der massenweisen Versorgung der Haushalte und Arbeitsstätten wandelt sich langsam auch das Kommunikationsverhalten: die anfängliche Unsicherheit, das Zögern weicht einem Enthusiasmus. Eine e-mail-Adresse zu haben gehört zum "guten Ton", jeder soll für jeden elektronisch erreichbar sein: Kommunikation über alles.
Für die Wirtschaft, die Werbeindustrie und die Politik ist das Internet mit dieser Kommunikationsmöglichkeit ein ungeheurer Gewinn. Schon gibt es etliche Studien, die auf tiefgreifende soziale, politische Veränderungen durch die Kommunikationstechnologie verweisen.
Die größten Umwälzungen liegen allerdings weniger im technischen Bereich, als vielmehr im sozialen und kulturellen. Das Verständnis von Kommunikator und Kommunikant wandelt sich ebenso wie das des Allgemeinen und Besonderen, des Privaten und Öffentlichen. Damit einhergehend verschieben sich Begriffe und Bedeutungsfelder von Autorschaft, Authentizität und Verantwortung. Am deutlichsten fällt die Formveränderung ins Gewicht: die Sprache, der Stil passen sich bei den meisten der Geschwindigkeit an: Texte werden kürzer, Satzkonstruktionen sind einfach und der Wortschatz ist stark reduziert. Man kommt mit Basisdeutsch aus, aufpoliert mit Denglisch, einem Pidgin-Äquivalent.
Diese Reduktion und Sprachverkümmerung erlauben andererseits vielen ungebildeten Oberflächlichen elektronisch zu partizipieren (vor nicht allzu langer Zeit schrieb und warb eine Grossbank im Wissen um den Bildungsgrad ihrer Klientel mit dem Pleonasmus "mitpartizipieren!), ohne dabei als inkompetent aufzufallen. Der Fortschritt stellt sich ein, weil die Latte nieder gelegt wurde. Nicht Qualität gilt, sondern Quantität: ein Maximum in kürzester Zeit.
Diese Fixierung auf stereotype Markteigenschaften erhebt den Kommunikationsakt als solchen schon zum Erfolg: es ist oft nicht wichtig was man kommuniziert, sondern dass man es tut. Es ist nicht wichtig, sprachsensibel oder inhaltsüberlegt zu kommunizieren, sondern raschest. Und mit so vielen wie möglich.
Vor Jahren, als die Versorgung der Haushalte mit Telefongeräten, oft nur einem "Viertelanschluss", vollzogen war, wäre es niemanden eingefallen, die Telefonbücher als Aufforderung zu nehmen, irgendwelche Nummern daraus anzuwählen. Man telefonierte wegen anderer Gründe. Telefonieren war kein Selbstzweck. Es war zB fast unanständig, ohne besonderen Grund eine "öffentliche Person" anzurufen.
Heute verschenken Massenmedien e-mail-Adreßverzeichnisse aller wichtigen Persönlichkeiten im Lande, damit jeder endlich X und Y per e-mail erreicht. Weshalb irgendwer irgendwen anschreiben solle, wird gar nicht mehr bedacht: es begeistert und überzeugt schon die Möglichkeit, dass man jemanden elektronisch erreichen kann.
Und in der Tat klagen viele, auch Nichtprominente über die neue Art von Lärm und Verschmutzung: der Informationsüberflutung, der Verstopfung, dem Informationsmüll. Anstatt sozial und kulturell an dieses Phänomen heranzugehen, werden wieder in der Technik Lösungen gesucht: Filter- und Eliminierprogramme sollen Ungewolltes abhalten oder vernichten, Gesetzesbestimmungen sollen unverlangte Zusendungen unter Strafe stellen und dergleichen mehr.
Die Masse scheint es zu leiben sich dennoch in der Illusion zu wiegen, mit jedem in offenen Verkehr treten zu können. Die geschürte Euphorie überdeckt dabei Schwachstellen im Datenschutz, die systematische Verletzungen der Privatsphäre erlauben.
Paradoxerweise akzeptiert die Mehrheit eine Kommunikationsunsicherheit hinsichtlich der Vertraulichkeit, wie sie sie im konventionellen Briefverkehr nie akzeptierte. Es ist, leider, eine einseitige Offenheit, die wahrscheinlich, nach dem ersten "Rausch", zur peinlichen Ernüchterung führen wird.
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