Haimo L. Handl

Chatting & conversing oder, wie es neudeutsch (deutschsprachige Pidginversion) heisst, Chatten & Chatten (Konversieren gibt es im Neudeutschen nicht mehr)

Haben wir es beim chat mit einem neuen Phänomen zu tun? Ja und nein. Ja, hinsichtlich der eingesetzten Kulturtechnik und daraus resultierender Konsequenzen, nein, hinsichtlich der anderen Kommunikationsaspekte.

Die Geschichte der Kommunikationsmittel, die Mediengeschichte also, zeigt uns, wie technische Einrichtungen sich auf Kommunikationsverhalten, -formen, ja, sogar –inhalte auswirkte. Man denke nur an die Veränderungen durch das Morseinstrument, den Telegrafen, das Telefon. Die technischen Mittel, die Medien, bedingten einen spezifischen Sprach- und Sprechstil, verlangten aus Kostengründen nach neuer Kürze, erzwangen Toleranz grammatikalischer „Fehler“ oder Brüche, förderten die Bildung von „Kunstworten“. Der Telefonstil entwickelte sich in Ländern wie den U.S.A., wo früh schon die Tarife sehr niedrig waren, gänzlich anders, als in den europäischen Ländern, wo hohe Gebühren prohibitiv der Etablierung einer redseligen, zeitverschwenderischen Telefonkultur entgegenwirkten.

Doch auch jenseits der medialen Kommunikation kennen wir seit je Formen, die weniger oder gar nicht dem eigentlichen Informationsaustausch, Wissenserwerb oder –bestätigung dienen, sondern die ihre Funktion im Sozialen haben. Dabei denke ich nicht nur an Rituale, obwohl sie nach wie vor fixer Bestandteil unserer Kommunikationskultur sind. Ich denke an die vielen Sozialhandlungen, die über Kommunikationskanäle laufen, die ihre Qualität nur im Bereich des Sozialen finden bzw. von dort her beziehen und nie im Bereich der Information. Der Alltag ist voll davon. Was früher Tratsch, Klatsch, Plauderei usw. war, ist heute small talk. Viele vermögen nicht mehr zu reden, sondern zu talken. Es gibt keine Rhetoren und Redemeister, sondern umworbene Talkmaster.

All diese Formen, ob zufällig im Zugabteil, im Flugzeug, im Warteraum, im Foyer, an der Bushaltestelle, in der Warteschlange vor der Kassa usw., zeichnen sich durch einige gemeinsame Elemente aus: die „Kommunikationsteilnehmer“ sind mehr oder weniger zufällig aufeinanderstossend durch Handlungen oder Interessen, die zumindest in einem Bereich gleich sind: Einkauf dort, wo sie eben gerade einkaufen, Fortbewegung (Reise) unter Nutzung eines Verkehrsmittels, das sie mit möglichen anderen Fahrgästen teilen, Unmöglichkeit, willkürlich sich dieser Situation zu entziehen etc. Also, für eine gewisse Zeit teilt man einen bestimmten Raum mit zufällig dort anwesenden. Als Kommunikation bieten sich jene Themen an, die unverbindlich sind, die auch kein spezifisches Kontextwissen verlangen. Wird jemand zu privat, weist man das zurück oder, was immer häufiger geschieht, ist glücklich gefragt zu werden und erzählt dieser Person, stellvertretend für die vielen, vielen anderen, die nie zuhören, endlich die Geschichte, die eigene Lebensgeschichte. Ganz selten ist man so angetan von dieser Kommunikation, dass man das Gegenüber nach Ende der Kommunikationssituation treffen möchte: man tauscht Visitenkarten (heute: business cards) aus, notiert sich die Telefonnummer, verspricht, einander zu kontaktieren. Oft sind dann solche Kontaktierungen frustrierend, weil der veränderte Kommunikationsrahmen, die andere Disposition natürlich eine andere Kommunikation verlangen und Weiterführungen der erinnerten Kommunikation nicht gelingen; man kennt das nicht nur von Urlaubsbekanntschaften und dergleichen.

Will jemand mit einer oder einem Fremden „ernsthaft“ kommunizieren, müsste er deutliche Signale seiner Absicht senden, Klarheit und Übereinstimmung der zu verwendenden Kodes etc. Er müsste ablesen können, wieweit dieses oder jenes zumutbar wäre, wann er zurückzieht, weil Reaktionen Verstimmung zeigen oder Unfähigkeit, „richtig“ auf das Thema einzugehen etc. Bei all dem gelten Regeln, in die wir als Teil unserer kulturellen Kodes sozialisiert wurden. Sie zu verletzen hiesse Missverstehen provozieren oder gar auf gänzliches Unverständnis zu stossen. Fremde, die solche Kulturkodes nicht oder nur rudimentär kennen, wissen ein Lied dieser Problematiken zu singen.

Auch zielgerichtete, primär der Information verpflichtete Kommunikation benötigt Redundanzen. Es wäre unökonomisch, möglichst nichtredundante, hochkomprimierte Information kommunizieren zu wollen. Redundanzen sind wie Schmierstoffe, Gleitmittel, die die Informationsverarbeitung erleichtern, beschleunigen und dabei Energie sparen, obwohl Nebensächliches (Störgeräusche, Wiederholungen etc.) mittransportiert werden. Es kommt auf das Mass an, auf das Vorwissen der Teilnehmer, auf die Kenntnis der Intention und Antizipation, auf Zeit und Raum.

In der direkten persönlichen Kommunikation gewinnt sogar die Anonymität des Gegenübers, wenn er sich nicht identifizierte und nichts danach verlangt, dass er es tue, eine eigene Qualität, weil die Anwesenheit, die Ausstrahlung der Person, die Rede begleitet. Er liefert ein Bild, er agiert und reagiert. Ich erfülle für ihn dieselbe Funktion. Auch wenn ich ihn nicht kenne oder wenn er gar eine falsche Identität vorgäbe (der Mann zum Mädchen: er sei Modefotograf und lade sie ein..., dabei ist er Schreibkraft in einem Gemeindeamt...) ist diese Täuschung nur dann von Belang, wenn über die aktuelle Kommunikation hinaus Folgen zu erwarten sind bzw. Handlungen beabsichtigt werden.

In der Netzkommunikation ist es ähnlich. Der als wesentlich erkannte Unterschied liegt in der Anonymität. Ich meine, nur vorderhand. Die heutigen Chateinrichtungen (cool talk, net meeting usw.) erlauben gleichzeitige Übermittlung von Schrift (chat), Bild, Zeichnung, Daten (white board), Ton (microphone, telephone; wobei der Ton in einem Duplexverfahren sogar gegenseitig vernommen werden kann) sowie Video. Wenn jemand seine wahre Identität verbirgt, ist das nicht viel anders als der Nachbar im Warteraum, den ich sehe und höre, und dessen Identität ich deshalb noch nicht kenne, außer über die Präsenz hinaus. Ähnlich bei der entwickelten Form des Chat.

Es würde wahrscheinlich keinem vernünftig Denken einfallen, irgendwelchen Angaben „einfach“ Glauben zu schenken, wenn diese bedeutungsvoll sein sollen bzw. ihn materiell beträfen oder tangierten, d.h., er aus ihrer Beachtung oder Nichtbeachtung reale Konsequenzen zu gewärtigen hätte. Dann würden gewisse verbürgte Identifikatoren erfragt und geprüft werden etc. (PIN, Losungsworte, Referenzen etc.).

Nur, weil der chat eine Plauderei ist, weil keine Verbindlichkeit ihm von vornherein eigen ist oder sein muss, haben die Teilnehmer die Freiheit, auf Verifikation oder Prüfung der Authentizität zu verzichten. Sobald aber die Gültigkeit einer Aussage über ihre Plausibilität hinaus ansteht, wird man andere, spezifische Informationen verlangen und prüfen bzw. geben.

Deshalb meine ich, dass nicht, wie üblicherweise betont, die Anonymität der Hauptunterschied des chat zur Plauderei ist, sondern die durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren begünstigte Kommunikationssituation, die den chat auszeichnet.

Spätestens hier merkt man, dass ich ungenau wurde. Es gibt ja nicht DEN chat, sondern viele Formen. Soll man auch jene chats hinzurechnen, die „instant messaging“ genannt werden, weil die Geschäftsleute schon von der Bezeichnung her vermeiden wollen, diese Kommunikationsform als plan- ziel- wertlos zu konnotieren? Der übliche chat hat nämlich durch die exzessive Nutzung vor allem der jungen Generation das Image eines unverantwortlichen, ungezügelten, ungebildeten, unverbindlichen Geschwätzes gewonnen. Das dämmerte auch den business men, den Managern, weshalb die heute lieber von instant messaging reden, obwohl es natürlich ein chat ist. Was unterscheidet den einen chat vom anderen? Eigentlich nur eine kleine, aber wichtige Ergänzung: die Vorgabe (Thema, Ziel, Kommunikationskreis, verwendete Kodes (Sprache, Jargon, Regeln)).

Zielgerichtete Kommunikation kann sich der sogenannten Chatform bedienen, wird sich aber gerade durch ihre Zielgerichtetheit und Erwartung der Beachtung bestimmter Kommunikationsregeln vom üblichen chat unterscheiden. Dieser gibt zwar auch Vorgaben, doch meist nur allgemeine (breite Zielgruppe, Altersgruppe, Geschlechtsgruppe, Thema usw.). Weiters werden in den üblichen chats keine sofort nachprüfbaren Identifikationen verlangt. Gerade das erlaubt es, incognito in den virtuellen Kommunikationsraum zu treten und ihn wieder zu verlassen, ganz ohne Sanktion. Allerdings auch ohne jede andere Gratifikation, als die, welche aus dem Kommunikationsakt gewonnen werden konnte.

Vermutlich führt dieser Umstand dazu, dass besonders Adoleszente und Nichtpersönlichkeiten die Chance nutzen, im Netz sich „auszuladen“, auszukotzen. Anstatt aggressiv auf der Strasse zu brüllen oder gar jemanden zu prügeln oder zu vergewaltigen, verbalisieren sie ihre Fantasien, ihre Frustration und Wut – und haben Zuhörer, Leser und Zuschauer, je nach Einsatz der Kommunikationsmittel (zumindest für eine Zeit, weil manche chats dann doch reagieren und manchmal solche „Teilnehmer“ virtuell entfernen).

Also sind die Kommunikationsweisen nicht so neu. Die Auswirkungen sind allerdings drastischer, weil durch die technischen Einrichtungen mehr Teilnehmer gleichzeitig kommunizieren können.

Der propagierte positive Aspekt, jeder könne mit jedem jederzeit in Kontakt treten, klingt mir eher wie eine Drohung, denn als Werbung oder Versprechen und entspricht für mich nur einem fundamentalen Missverständnis von Person, Privatheit und Kommunikation. Ich sehe meine Freiheit besonders auch darin, bestimmen zu können, mit wem ich in Kontakt trete bzw. mit wem nicht. Ich will nicht mit allen kommunizieren. Schon gar nicht will ich müssen.

Machen Sie für sich einen kleinen Test: besehen sie ihr CD-Telefonverzeichnis oder, konventionell, ihre dicken Telefonbücher. Hunderttausende Anschlüsse, mehr als alle Chat-Anschlüsse! Sind sie von dieser Potentialität so begeistert, dass Sie irgend jemanden einfach anwählen und sagen, „Hören Sie, ich heisse Karl Meier und mir gefällt ihr Name, Annette, ich will Sie gern treffen!“ Oder würden Sie jemanden anwählen und über Sportresultate befragen oder über die Affäre ihres Freundes schimpfen, nur weil der Name dort steht etc.? Wahrscheinlich, wenn Sie gesund sind, nicht.

Im Netz scheint dies aber durchaus angebracht zu sein. Klar, da gibt es indizierte Chatrooms, die laden jemanden ein, versprechen Teilnehmer, Themen etc. Aber es gibt auch die spontan originierbaren chats von Privaten, in die andre Private sich einschalten können, wo nichts anderes indiziert ist, als dass Person X eine erreichbare Adresse hat (cool talk, net meeting, icq etc.) bzw. vielleicht noch im Kommentar Interessen oder Bedingungen angibt (nur für Frauen, nur für Homos, für alle etc.). Was ist von solchen chats zu erwarten? Was wird da befriedigt? Irgend etwas muss doch als positiv erfahren werden, als Kitzel und Befriedigung, sonst würde man doch nicht viel Zeit (es dauert immer noch etwas lange, bis man die Verbindungen hat), Geld und Energie aufwenden, um virtuell zu kommunizieren.

Ich probierte das aus und versuchte bei solchen Spontanchats eine zielgerichtete Kommunikation im Bereich Politik, Philosophie oder Kultur. Fast immer war die Reaktion Unglauben, Unverständnis oder Verstörtheit, die in einigen Fällen zum abrupten Abbruch führte, in anderen zu Versuchen auf leichte, seichte Ebenen abzudriften, wo man keine (eigene) Meinung abzugeben hatte, wo es beim „Plauscherl“, dem chat eben, blieb.

Andererseits gab es chats, wo die Kommunikationserwartung so klar war, dass ein Herumreden als lästig gewertet wurde. Das erlebte ich, als ich in eine Dreiergruppe trat (Ton und Schrift), die über (virtuelle) Sexkontakte und –praktiken quatschte und sofort, ohne Einleitung wissen wollten, was ich wolle und zu zeigen hätte (als Idenfikator wäre sozusagen ein Nacktfoto als instant message zu übermitteln gewesen). Orientierungsgegenfragen wurden nicht gleich beantwortet bzw. die Teilnehmer wechselten auf private Kanäle, die nur jeweils zwei Teilnehmer zugänglich waren, nicht mehr der Gruppe...

Es gibt also auch beim chat Regeln, so regellos frei und anarchistisch er vordergründig aussehen mag. Nur, welcher Qualität sind sie, welcher Kommunikation dienen sie? Kommunikation, die fast Selbstzweck ist, erfüllt soziale Funktionen. Der chat ist grossteils diesem Bereich zuzuordnen. Zielgerichtete Kommunikation, also jene, deren Ziel jenseits der Kommunikation liegt, kann zwar sogenannte Chat-Formen einsetzen, wird sich aber in ihrem Kommunikationsablauf dennoch vom üblichen chat unterscheiden. Anonymität ist ein wichtiger Faktor, obgleich er gegenwärtig überschätzt wird. Dort, wo die Anonymität die Kommunikation wesentlich bestimmt, kann sie keine „verbindliche“ sein, wenn auch stark einseitig, aggressiv, verletzend usw.

Unverbindliche Kommunikation ist nicht per se abzuwerten. Verbindliche Kommunikation kann bzw. dürfte nicht alleine das Feld bestimmen. Dennoch sind in fast allen Kulturen (vor allem den Schriftkulturen) die Kommunikationstechniken für verbindliche Kommunikationen besonders gepriesen, gepflegt und entwickelt worden. Ein Schatten davon lässt sich aus den Worten lesen, sieht man sie nur genau an; die Zitate aus zwei Wörterbüchern mögen dies zeigen:

chat I v/i plaudern. II v/t chat up Br. colloq einreden auf (acc); sich ranmachen an (ein Mädchen etc), anquatschen. III s Plauderei f: have a chat plaudern.
(Langenscheidt, T1)

chat, v.i.: chatted, pt., pp.; chatting, ppr. (shortened from chatter)
1.  to talk in a familiar manner; to talk without form or ceremony
2.   to talk idly; to prate.
3.  chat, v.t. to tal of (Obs.)

chat, n. 1. free, familiar talk; informal conversation.
2. small talk; chit-chat; chatter.
3. a bird ...

chat, n. 1. a twig or little stick. (Dial.)
2. (pl.) poor ore freely mixed with small stones (Brit. Dial.)
3. a little potato (Brit. Dial.)
4. an ament or catkin, as of a willow
5. a samara, as of a maple
6. a spike, as of plantain

chatter, v.i.; chattered, pt., pp.; chattering, ppr. (imitative in origin)
1. to utter sounds rapidly and indistinctly, as a magpie or a monkey
2. to click together rapidly; as the teeth chatter when one is chilly
3. to talk idly, carelessly, or rapidly 4. to rattle or vibrate, as a tool when not held with sufficient firmness, or when the tool itself is too flexible

chatter, v.t. to utter, as rapid indistinct sounds; as, to chatter nonsense

chatter, n. 1. Short, indistinct sounds in rapid succession, also, rapid, idle talk
2. noise made by clicking the teeth together

chatteration, n. the act of habitual or excessive chattering (Colloq.)

chatter box, n. one who talks incessantly

chatterer, n. 1. a prater; an idle talker; a person who chatters
2. any of various chattering birds, as the waxwing

chatty, a. 1. given to free conversation; talkative
2. light, familiar, and informal: said of talk

converse, v.i.; conversed, pt., pp.: conversing, ppr. (ME conversen; OFR converser; L. conversari, to dwell, keep company with, freq. OF convertere; from com-, together, and vertere, to turn)
1. to associate; to be intimately acquainted (with)
2. to have sexual intercourse (Archaic)
3. to have free intercourse in mutual communication of thoughts and opinions; to hold a conversation: to talk

converse, n. 1. conversation; familiar discourse or talk; free interchange of thoughts or opinions
2. friendly intercourse; association; communion
3. sexual intercourse (Obs.)

(Websters’s New Twentieth Century Dictionary)

ad hoc 2/98