Haimo L. Handl

Theodor W. Adorno - Gedanken zum Gedenken (1994)

Vor 25 Jahren verstarb Theodor W. Adorno im schweizerischen Wallis nach einem Herzinfarkt. Sein plötzlicher Tod wurde von einigen als sein letztes Exil, das er suchte, gesehen, von anderen war es ein Ende eines Spießrutenlaufs, durch welchen der Denker in seinen letzten Jahren gejagt wurde. Man sprach vom Verführer, von Verführten und Unverführbaren, von der größten Intelligenz Deutschlands des 20. Jahrhunderts oder vom aristokratisch abgehobenen, elitären Vernunftkritiker, Diagnostiker der Neuzeit und dergleichen.

Heute, 25 Jahre nach seinem Tod, ist vielen das Bild dieser Persönlichkeit verblaßt, scheint sein Platz in der Philosophie, Gesellschaftskritik, Soziologie, mehr im Schatten. Sein Denken ist, wie die Moderne, wie die Aufklärung schlechthin, nicht mehr en vogue. Er, der sein Denken nicht nach Alltagskritierien oder Moden ausrichtete, wird mit seinem Werk als "zeitgebunden" abgetan und abqualifiziert.

Wenn heute öffentlich gefragt wird "Wer war eigentlich Adorno?" könnte das als Frage nach der komplexen Persönlichkeit, nach positivem Erkundenwollen dieser facettenreichen, nicht in wenige Kategorien einreihbaren Person, verstanden werden. Aber die Frage wird wohl von vielen anders verstanden und indiziert ein erstauntes Aufschauen: Adorno? Wer?. Was?

    "Er ist ein Denker: das heißt, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind." Friedrich Nietzsche

Adorno war kein Systemtheoretiker, schuf kein übliches Oeuvre mit einem charakteristischen Hauptwerk; vieles ist aphoristisch, essayistisch. Seine schwere Eingliederbarkeit wurde ihm vom Apparat, von der Profession, zum Vorwurf gemacht. Seine Vielseitigkeit - er war nicht nur Denker, sondern auch Künstler - wurde als Hindernis für seine "Hauptarbeit" gesehen; nicht alle vermochten im künstlerischen Denken eine Herausforderung und Befruchtung seiner wachen, sinnlichen Intellektualität sehen. Seine Sprachempfindsamkeit, seine sprachkritische Haltung führte zu einem Stil, ja zu einem "Jargon", der vielen den Zugang erschwerte. Adorno ist nicht leicht, heißt es gemeinhin. Doch wer in sein Denken eindringt, entdeckt das Reflektieren, das Bedenken der Grundlagen, der Hintergründe, der Abgründe. Das Denken kreist um seine eigene Bedingtheit, das Problem der Abstraktion und der Identifikation wird permanent im Auge, im Sinn gehalten, es ist ein Beitrag zur Kritik des "identifizierenden Denkens".

Seine Philosophie läßt sich nicht referieren. Hier soll der falsche Versuch einer Zusammenfassung gar nicht unternommen werden. Ich nehme mir die Freiheit, nach meinem Verständnis, nach meiner Wertschätzung, mir einige wesentliche Aspekte hervorzuheben, zu beleuchten. Das soll nicht als falscher Kotau verstanden werden; nicht Demut oder ehrfürchtige Verehrung leitet mich, sondern Einsicht, daß auf so begrenztem Raum jeder komplexen Persönlichkeit und ihrem Werk zuviel Gewalt angetan würde, wollte man sie oder es derart komprimiert vermitteln.

Andrerseits höre ich die berechtigte Frage: worin liegt seine Bedeutung? Was hat er heute noch zu sagen? Kürzlich meinte mir gegenüber ein Kenner der Frankfurter Schule und der Kritischen Theorie, Adorno sei obsolet. Subjekt und Objekt seien keine gegenwärtigen philosophischen Begriffe mehr, die Vernunftkritik, wie in der Dialektik der Aufklärung formuliert, komme mehrheitlich von Horkheimer, Adorno selbst sei zu zeitgebunden, sei veraltet. Höchstens sein soziologisches Werk sei noch anerkannt, wiewohl auch da überschätzt. Zudem war es die alphabetische Reihung, die Adorno immer vorne auf den Titeln anführte vor Horkheimer, vor Brunswick. Seine Kritik der Kulturindustrie sei überzogen und durch Idiosynkrasien bedingt; seine Abqualifikation des Jazz und der Improvisation beweise seine Inkompetenz. Usw. Die Häme in diesen Bemerkungen ist unüberhörbar. Fast scheint es, die Hinweise auf zu rigide (Ab)Urteile Adornos sind zahllos, sind nicht aufzufangen. Mit solcher Art Kritik wird oft nicht nur einer falsche Haltung oder Aussage zu einem spezifischen Fall widersprochen, sondern der Denker und sein Werk generell negativ bewertet.

    "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Th. W. Adorno

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie und Pikanterie, daß ich diese Gedenkzeilen in einer "linken" Zeitung publiziere, früher doch ein Organ einer Partei, welche auf Linientreue erpicht war. Adorno wurde von Leuten solchen Geistes abqualifiziert, negiert. Diese Abweisung traf sich mit der Ablehnung der Konservativen, denen er mit seiner marxistischen, subversiven Vernunftkritik ein Dorn im Auge war.

Heute liegt das Problem, wie vorher angedeutet, eher im Umstand, daß sein Werk wenig bekannt ist, daß man sich oft nur einiger prägnanter Sätze erinnert und meint, daran ihn oder sein Werk messen zu können.

    "Gefahr der Sprache für die geistige Freiheit. - Jedes Wort ist ein Vorurteil." Friedrich Nietzsche

Besondere Beachtung fand das 1947 in Amsterdam erscheine Buch Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, welches 1969 neu herausgegeben wurde. Dort heißt es zu Beginn: "Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt." Die Autoren versuchten den Umschlag der Aufklärung in den Mythos, die Kehrseite, herauszukristallisieren, um in einer Dialektik der Vernunftgeschichte die brennende Frage zu beantworten, wie nach und in Erkenntnis eben dieser Dialektik doch eine humane, emanzipierte, freie Gesellschaft gedacht und gelebt werden kann. Ich, für meinen Teil, finde die Überlegungen, die darin scharf und hell angestellt werden, nach wie vor herausfordernd und mahnend; die Hinweise, wie human frei doch der entwickelte Kapitalismus in unseren Gesellschaften sei, überzeugen nicht, und das Unvermögen, bündige Antworten auf immer noch offene Fragen zu finden, wertet nicht die Fragen ab, sondern qualifiziert die gegenwärtige Situation, unsere Kultur, unsere Antworten als Teil unseres Handelns.

    "Aufklärung ist totalitär." Horkheimer/Adorno
Die Gefahr des Sichverfangens in einem Zirkel, des Nichtertragenskönnens der Auflösung jeder Sicherheit wurde damals schon gesehen im Wechselverhältnis von Mythos und Aufklärung: " Als sprachlich entfaltete Totalität, deren Wahrheitsanspruch den älteren mythischen Glauben, die Volksreligion, herabdrückt, ist der solare, patriarchale Mythos selbst Aufklärung, mit der die philosophische auf einer Ebene sich messen kann. Ihm wird nun heimgezahlt. Die Mythologie selbst hat den endlosen Prozeß der Aufklärung ins Spiel gesetzt, in dem mit unausweichlicher Notwendigkeit immer wieder jede bestimmte theoretische Ansicht der vernichtenden Kritik verfällt, nur ein Glaube zu sein, bis selbst noch die Begriffe des Geistes, der Wahrheit, ja der Aufklärung zum animistischen Zauber geworden sind."

Es ist nicht nur die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, der Barbarei, die zur pessimistischen Kritik führte. Es ist die Erkenntnis des tiefen Widerspruchs, der tiefen Angst, die den Widerspruch schier unaushaltbar macht, welche das Programm der Aufklärung in ihr Gegenteil verkehrt. Dazu findet sich in der Dialektik der Aufklärung der Satz: "Die Verdoppelung der Natur in Schein und Wesen, Wirkung und Kraft, die den Mythos sowohl wie die Wissenschaft erst möglich macht, stammt aus der Angst des Menschen, deren Ausdruck zur Erklärung wird." Abstraktion (ich sehe eine Nähe zu jener von Nietzsche als Moloch genannten Abstraktion!) als Voraussetzung für Aufklärung überhaupt, als Mittel zur Macht, zerstört, was ihr zufällt. Ein anderer Satz qualifiziert den Sachverhalt nüchtern: "Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet." Nirgends ist eine Änderung derart kritisierter Vernünftigkeit in Sicht, weshalb es nicht verwundert, wenn Denker solchen Wissens selbst denunziert werden.

    "Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch." Adorno

Adornos Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, "und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben", hat zu etlichen Ablehnungen und Mißdeutungen geführt. Seine Korrektur in der Negativen Dialektik (im dritten Kapitel des dritten Teils) wurde als Zurücknahme dieses Standpunkts gesehen, obwohl eine genaue Lektüre nur das Widersprüchliche aufzeigt, das Adornos Denken unbarmherzig bloßlegt und sich daran reibend im Denken hält. Adornos Aussage wurde als Äquivalent des Bilderverbots gesehen, ein Redeverbot, das ein Tabu errichtet. Adorno tue Unrecht den Opfern und allen Nachfahren, die doch Gedichte schreiben, sich erinnern, kurz, die darstellen. Nach seinem Diktum müßten sie schweigen.

Gerade diese umstrittene Äußerung scheint mir den tiefen, pessimistischen, nicht aber resignierten Humanismus von Adorno herauszustellen. Ihm ging es nicht um Verschweigen als Vergessen, sondern um eine Entsprechung, eine Würde, eine Humanität, die sich nicht des Wissens und der Erinnerung des Barbarischen verschließt und aus diesem Verständnis keine Gedichte schreibt, keine Kultur wie bis anhin übt, weil dies Verrat wäre, weil es unwürdig wäre. Es geht um den Widerspruch des Erfahrens, Dabeiseins oder Schauens, Zuschauens, Darstellens (die Problematik beschäftigte auch Schiller und Nietzsche!). In seinen Meditationen zur Metaphysik in der Negativen Dialektik führt Adorno aus:

    "Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen. (...) Reflektierte Menschen, und Künstler, haben nicht selten ein Gefühl des nicht ganz Dabeiseins, nicht Mitspielens aufgezeichnet; als ob sie gar nicht sie selber wären, sondern eine Art Zuschauer. (...) Aber die zuschauerhafte Haltung drückt zugleich den Zweifel aus, ob dies denn alles sein könne". (...) Unterm Bann haben die Lebendigen die Alternative zwischen unfreiwilliger Ataraxie - einem Ästhetischen aus Schwäche - und der Vertiertheit des Involvierten. (...) Daß es (Auschwitz) geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern. (...) Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll."

Wer nur ein wenig unbefangen und wach seine Sinne nutzt, sieht die fortgesetzte Erniedrigung, Barbarei, Beleidigung. Dieses Wissen, dieses Bedenken, führte zu Adornos unerschrockener, wenn auch pessimistischer Absage an das Herrschende. Daß er seine Absage nur im Lichte einer Erlösugnsvorstellung zu halten vermochte, mag einige befremden. Es bleibt das Werk eines auf Emanzipation und Menschlichkeit orientierten Denkers und Künstlers, auch ein Vierteljahrhundert nach seinem Ableben, relevant.

VOLKSSTIMME 35/1994