Haimo L. Handl

Aus den "Chiffernwesen unserer Theologie"

Der Briefewechsel zwischen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin Ein Dokument hochgeistiger Moderne und tiefer Freundschaft

Die vollständige Publikation des erhaltenen Briefwechsels zwischen Adorno und Benjamin, welche Henri Lonitz im Suhrkampverlag mustergültig herausgibt (als Band 1 der vom Theodor W. Adorno Archiv herausgegebenen "Briefe und Briefwechsel" von Adorno) mag endlich geeignet sein, Gerüchte, Mutmaßungen, Verdächtigungen bzw. schnöde und gehässige Abwertungen, wie sie seit vielen Jahren zur Negativrezeption von Adorno bzw. der Frankfurter Schule gehören, zu korrigieren oder abzustellen, vorausgesetzt, man beschränkt seine Wahrnehmung nicht durch liebgewordene Vorurteile.

Zwar bietet die vorliegende Publikation nicht wirklich viel neues Material. Doch ist es genug, das Bild abzurunden und die, die manche Häme als unlauter abwehrten, zu bestätigen und dabei all jene, welche damals und auch heute noch am negativen Zerrbild festhalten, als Befangene, Ideologen oder einfach Unverbesserliche unter Beweis zu stellen.

Das gängige Bild, welches sich hartnäckig hielt, malte Benjamin nicht nur als Opfer der politischen Umstände, sondern auch seiner "Freunde" bzw. deren Institut; diese werden als zynische Ignoranten und Ausbeuter hingestellt. So bemerkte 1979 der damals 32jährige Werner Fuld in seiner Biografie Walter Benjamins (Zwischen den Stühlen, Hanser; 1981 als Fischertaschenbuch erschienen) bissig, daß Adorno die treibende Kraft der Kürzungen der Briefausgabe gewesen war, daß den "Erklärungen der Herausgeber der Schriften Benjamins mit größter Vorsicht zu begegnen (ist)" und Benjamin sich durch das Institut (für Sozialforschung von Horkheimer und Adorno) "getäuscht und an den Rand des Selbstmords getrieben" sah. Die etlichen Vorwürfe der Textmanipulation beziehen sich auf die angezeigten und nichtangezeigten Textauslassungen. Vorwürfe der zynischen Barbarei gegen den armen Benjamin lesen sich dort so: "Die hier offensichtliche Ahnungslosigkeit der bequem in Amerika lebenden Wissenschaftler (also speziell Horkheimer und Adorno) über die alltägliche Not der Emigranten in Europa ist erschreckend, aber es ist nicht nur die räumliche Distanz dafür verantwortlich, vielmehr erwies sich das Institut als eine Art Elfenbeinturm, der jeden Kontakt zur Realität der Außenwelt problematisch machte, obwohl doch gerade das, was hier gedacht wurde, gesellschaftlich relevant sein wollte - wenn auch, mit Adorno, in der Negation des schlechten Ganzen der Gesellschaft." Ein Zitat einer Bemerkung von Alfred Sohn-Rethel gegenüber Mathias Greffrath verstärkt die Kritik: "Das war also wirklich eine höhere Menschenquälerei, dieses Verhältnis von Benjamin zum Institut." Zusammen mit Verdächtigungen von Hannah Arendt läßt sich, für den Kenner der Werke der beiden Autoren sowie des Umfeldes der Frankfurter Schule relativ leicht erklärbar, das konstruierte Rezeptionsfeld ausmachen.

120 Briefe enthält die jetzige Ausgabe des Briefwechsels; der 121. Brief ist die Niederschrift der Nachricht "à mon ami Adorno", welche Benjamin kurz vor seinem Ableben Henny Gurland auftrug. Die Briefe sind wohltuend trocken, jedoch umfassend und informativ vom Herausgeber kommentiert, so daß auch ein unbefangener Leser sich mit den Referenzen auf Personen und Werke zurechtfindet.

In der von Scholem und Adorno 1966 herausgegebenen und kritisierten Benjamin-Briefauswahl waren zwei Briefe von Adorno an Benjamin enthalten und 11 von Benjamin an Adorno. In sieben Briefen fanden sich damals angezeigte Auslassungen.

Der Kammerdiener- oder Schlüssellochblick, der hofft, seine Vermutungen obszön bestätigt zu finden, würde enttäuscht werden. Die meisten Auslassungen entsprechen den mitgeteilten Gründen. Über einige mag man sich wundern - insgesamt entstellten sie aber nicht das Bild, wenn sie auch Ideosynkrasien belegen.

Adorno hatte in seiner Herausgeber-Vorrede zur Briefauswahl geschrieben: "Benjamin war ein großer Briefschreiber; offensichtlich hat er passioniert Briefe geschrieben. Trotz der beiden Kriege, des Hitlerreichs und der Emigration erhielten sich sehr viele; auszuwählen war schwierig. Der Brief wurde ihm zur Form." "Seine Briefe sind Figuren einer redenden Stimme, die schreibt, indem sie spricht." "Fortschreitend vermitteln die Briefe ein Bild nicht nur von ihm, sondern auch vom geistigen Klima der Epoche."

Das Bild, welches der vollständige Briefwechsel bietet, widerspiegelt tatsächlich dieses geistige Klima, es zeigt aber eben auch die fragile, vornehme, freundschaftliche, fachliche, kritische, problematische, wache, vertraute Beziehung zweier Personen, die sich, trotz des Altersunterschiedes, trotz völlig unterschiedlicher Lebensbedingungen, verbunden sind und eins wissen, über alle Konflikte hinweg, nicht zuletzt deshalb, weil diese nicht verdrängt, sondern gelöst werden, wenn auch in gewissen Fällen nach Schweigepausen.

Mich berührte nicht nur der eigene Ton, der sich in den Briefen über die Jahre niederschlägt, nicht nur der Respekt und die selbstverständliche Würde des Umgangs der beiden Freunde, die sich nicht vor kritischen Bemerkungen scheuen, es war auch eine Traurigkeit, die sich nicht von den Personen und ihren Intentionen her einstellte, sondern von den äußeren Umständen.

Dem nicht nur aufmerksamen, sondern mitfühlenden Leser, jenem, der in der Lage ist, sich die Situation vorzustellen und zu vergegenwärtigen, rührt es positiv menschlich, wie die Briefschreiber, welche zu Freunden wurden, die Konflikte meisterten, welche ihre Auseinandersetzung provozierte, bedingte, hervorbrachte.

Wenn man sich nicht spießig daran stößt, daß Adorno aus gutbehütetem Haus kam und in den USA, wie Horkheimer, sein Exil nehmen konnte bzw. daraus nicht eine Feigheit oder Flucht in die Bequemlichkeit abliest oder sogar eine Schuld gegenüber dem, der zurückblieb (dabei die Entscheidungen Benjamins nicht berücksichtigend, als ob dieser nur Getriebener, Schwacher gewesen sei - welche Zumutung!), dann vermag man die vielen, vielen Versuche und tatsächlichen Hilfeleistungen von Adorno und Gretel Karplus (Adornos spätere Frau, eine gemeinsame Freundin von Benjamin und Adorno), die Bemühungen des Institutsdirektors Horkheimer und anderer durchaus als das zu würdigen, was sie schlicht waren: Hilfen. Daß dies nicht einfach war, nicht nur wegen der finanziellen Lage, sondern aus psychischen Gründen der Involvierten, läßt sich aus etlichen Sätzen ablesen.

Von Ahnungslosigkeit oder Ignoranz keine Spur! Aber auch nicht von "Ausbeutung" oder negativer "Aneignung", wie sogar gegenwärtig noch Adornos Interesse und Anteilnahme an der Arbeit Benjamins abwertend interpretiert wird.

Der einzige dunkle Punkt, der in den Briefen ja auch seinen Ausdruck findet, ist eine frühe Fehlleistung Adornos im Gebrauch einer Textstelle von Adorno für seine Antrittsvorlesung, die er unausgewiesen verwendet.

Doch dieses "Vergehen" vermochte nicht die Vertiefung des Kontakts der beiden Denker und Autoren stören. Ja, sogar später, als Benjamin in mißlichen Lebensbedingungen mehr denn je auf die Unterstützung des Instituts angewiesen war (nicht nur finanziell, sondern auch moralisch hinsichtlich seiner Arbeiten und Publikationen), und Adorno eine niederschmetternde Kritik seines der Zeitschrift übermittelten Baudelaire-Aufsatzes schrieb, brach die Freundschaft nicht. Derselbe Adorno, der so harsche Kritik geäußert hatte, fand später zu enthusiastischen Lobesworten ob der veränderten Fassung; und weder die Kritik noch das Lob klingen falsch oder konstruiert. Vielmehr ist daraus abzulesen, daß im Bereich des Denkens, der Arbeit, persönliche Bedingungen, die freundschaftliche Beziehung, den kritischen Blick und die kritische Position nicht zu beeinflussen vermochten, daß dieser Bereich anderen Kriterien ausgesetzt blieb. Ich sehe darin nicht nur kein Manko, sondern eine Bestätigung der fachlichen und persönlichen Integrität. Hier wird Philosophie und Soziales oder Persönliches nicht bewußt vermischt. Ich meine, diese Haltung verbürgte einen offenen Diskurs.

An zwei Themen und Arbeitsbereichen läßt sich die Kommunikation, das Interesse, die Anteilnahme, als auch die Kritik deutlichst herauslesen: am Passagenwerk und an der Baudelaire-Arbeit Benjamins. Beide Bereiche markieren die Hauptinteressen der Auseinandersetzung: Moderne und Archaik, Geschichte und Gegenwart, Mythos und Aufklärung (einiges fand zB Eingang in die "Dialektik der Aufklärung"). Zu meinen, Adorno hätte Benjamin als Ideenspeiser mißbraucht und dabei ausgebeutet, ist eigentlich eine Beleidigung beider: weil es den einen über den anderen stellt, während sie sich ganz selbstverständlich ebenbürtig empfanden und von daher mit einer Sicherheit konversierten, die keiner asymmetrischen Kommunikationsverbindung entspricht bzw. weil damit geurteilt würde, Benjamins Freundschaft sei nur bedingter Opportunismus, sein Eingehen Unterwerfung gewesen. Daß hochgeistige, aktive Persönlichkeiten die Äußerungen ihres Gegenübers aufnehmen und in ihr Denken einverleiben, ist doch nicht nur verwunderlich, sondern Voraussetzung für einen dichten, engen Verkehr. Drinnen und draußen gleichzeitig konnten und wollten sie nicht sein.

Daß trotz aller Differenz oder Kritik nicht nur programmatische Solidarität bemüht wurde, sondern die tiefe Freundschaft sich bewährte, beweisen diese wenigen erhaltenen Briefe, welche nicht zuletzt deshalb eine spannende Lektüre darstellen.

Theodor W. Adorno, Walter Benjamin: Briefwechsel 1928-1940. Herausgeben von Henri Lonitz. Frankfurt, Suhrkamp 1994

VOLKSSTIMME 3/1995