Esin Turan
Alle sind Geschichten

Haimo L. Handl, 10.01.2000

Geschichten. Nur Geschichten? Alle sind Geschichten? Geschichten in der Geschichte als Teile der Geschichten der Geschichte. Schichten. Das Wort "Geschichte" leitet sich vom mdh. "geschiht", ahd. "gisciht" her, Ereignis, Zufall, Hergang, mhd. auch Angelegenheit, Sache, Art und Weise, Schicht; der Begriff ist auch ein Abstraktum zu "geschehen"

Geschichte ist wie eine Ansammlung von Schichten, Lagen, ähnlich Böden, Decken, Kleidern: Schichte für Schichte lagert sich ab, bildet Untergrund, bricht, geht verloren, wird vergessen, verbindet sich mit neuen Lagen, frischen Ablagerungen usf.

Wir erinnern uns. Mensch sein heisst bewusst sein, sich seiner Geschichte erinnern, sie ahnen, kennen, wissen. Sie formen. Das Wissen um die Historizität ermöglicht Toleranz, Freiheit, menschliche Wertschätzung: nichts ist, wie es ist oder scheint, nichts ist einfach so, alles ist in Verbindung, zusammenhängend, geschichtlich.

Geschichten haben mehr als einen Sinn. Sie wollen gedeutet werden. Die Welt hat mehr als einen Sinn. Sie will verstanden werden. Es gibt vielerlei Verständnisse, vielerlei Wissen, vielerlei Wahrheiten. Weil es vielerlei Geschichten gibt.

Wer EINE Geschichte über alle anderen stellt, betreibt Machtpolitik. Er will überwältigen. Wer den Blick für die Vielfalt, die Komplexität der Welt und ihrer Geschichten gewinnt, findet einen unerschöpflichen Reichtum. Er freut sich an der Verschiedenheit, wie er sich freut an der Geschichte, der Vergangenheit, seiner Gegenwart und dem Hereinfallen der Zukunft in die Gegenwart, um sogleich Teil der Vergangenheit zu werden. Überall waltet mehr als EIN Sinn, immer und überall sind es mehr als EINE Geschichte; der Mensch und seine Welt sind nicht eindimensional. Die Welt ist reich.

Geschichten erzählen

Die Kulturen des Orient massen dem Geschichtenerzählen eine sehr hohe Bedeutung zu. Wir im Okzident kennen für gewöhnlich nicht allzuviel davon, doch zumindest die Erzählungen aus 1001 Nacht sind bekannt, neben anderen, oder auch in der Oper das Singspiel "Die Entführung aus dem Serail" von Mozart.

Elsa Sophia von Kamphoevener erzählt Märchen und Geschichten alttürkischer Nomaden, "An Nachtfeuern der Karawan-Serail" etwas anders, als die Serail-Geschichte, die Mozart vertonte. Ihre unschätzbar wertvollen Erzählungen sind nicht einfach Übersetzungen, sondern ihre Art der Geschichtenerzählung, trotzdem handelt es sich um türkische Geschichten. Wie das? Sie sagt:

"Un eines noch ist zu bedenken: die türkische Sprache ist die knappste Form der Ausdrucksweise, die nur denkbar ist. Sie ersetzt vieles durch Gesten und Handbewegungen, durch den Ausdruck der Augen. Darum war es nötig, in die deutsche Sprachform zu transponieren, in die deutsche Denkform sich einzuleben und in die deutsche Sicht. ... denn alles wird nur angedeutet, nichts ausgeführt. ...
Das ist die knappe türkische Art; und um sie zu verstehen, muss man Türke sein. Wenn ein Gelehrter dann so etwas in deutsche Worte setzt, dann heisst es allgemein: "Wie trocken sind doch die türkischen Geschichten, wie langweilig und dürr!" Ja, gewiss, wenn man "übersetzt". Und das eben tut ein wirklicher Erzähler Anatoliens, der hier spricht, niemals. Er muss neu schaffen, was unsterblich um Grunde der Zeiten ruht und der erweckenden Berührung harrt, um in steter Jugend zu lachen und zuleben."

Diese Sätze scheinen mir vortrefflich geeignet ein Phänomen zu beleuchten und zu bedenken: Artefakte, künstlerische insbesondere, sind "Texte", die in vielschichtiger Weise "gelesen", "dekodiert", "entdeckt", "übersetzt", "erweckt" bzw. "vergegenwärtigt" werden können und sollen.

Esin Turan, Türkin, studierte Bildhauerei in Wien. Ihre Arbeiten, die sie hier in einer Auswahl ausstellt, kreisen um einige zentrale Bedeutungsfelder:

" Erinnerung
" Pose - fremde Abbilder
" Hören - Wahrnehmung

Die grosse Reise - Lebensboot - Totenmeer - Hades

Der Blick kann auf der Oberfläche verharren, kann am banalen Objekt hängen bleiben oder kann die Allusion, die Andeutung, den leisen Hinweis zur weiteren Geschichte aufnehmen und entwickeln: beleben.

Wie zeigen sich Menschen, wenn sie ein Abbild von sich fertigen lassen? Wie ähnlich doch die Posen trotz verschiedener Kulturen.

Die Bilder in den Kisten wollen entdeckt werden und die Geschichten der Grossmutter wiedererzählt: wie Pandoras Büchse, nur positiv.