Raumgedächtnis

Haimo L. Handl, 14.10.2004

Raumgedächtnis ist nicht gleich Gedächtnis des Raums, ausser im metaphorischen Sinne verstanden, weil Gedächtnis nur lebende Organismen haben können, wovon der höchstentwickelte, der Mensch, ein besonderes hat, weil es sich mit seinem Bewusstsein verbindet und ihn dadurch zur hochentwickelten Sprache befähigt.

Gedächtnis ist die Voraussetzung zur Persönlichkeit. Jene Bedauernswerten, die an radikalem Gedächtnisverlust leiden, können sich ihrer selbst nicht mehr versichern. Sie leben ichlos, weil keine Identifikation mehr möglich ist, da jede dazu nötige Information, jeder Wissensgehalt, jedes Bewusstsein sofort vergessen wird.

Gedächtnisleistung ist nicht gleich Gedächtnis. Die physischen Voraussetzungen für Gedächtnis garantieren nicht gute oder beste Gedächtnisleistung, weil letztere auch von mentalen und psychischen Faktoren abhängt. Es gibt keine objektive Gedächtnisleistung. Das sogenantne kollektive Gedächtnis, das kollektive Erinnern ist ebenfalls eine Metapher. Menschen als Einzelwesen erinnern sich. Im übertragenen Sinne mögen die Erinnerungsgehalte über die davon beeinflussten Einstellungen und Verhaltensweisen "kollektiv" ablesbar oder zuordenbar sein. Der Kollektivkörper ist ja auch nur einer im bildlichen Sinn.

Dinge eignen kein Gedächtnis. Speichermedien, unabdingbar für den Betrieb von Computern, werden nur metaphorisch "Gedächtnis" genannt; sie sind aber blosse Speicher.

Dinge bilden Spuren, werden zu Auslösern von Erinnerungen, werden "Gedächtnismarken". Dinge und Räume verbinden sich mit Ereignissen zu Erfahrungsreizen, die sich im Gedächtnis eingravieren. Wie Ebenen, Lagen, Decken, Häute stülpen sich verschiedene Bezugsebenen über diese Konstrukte, welche für den Kommunizierenden dann wie animiert, belebt, redend wirken, weil er diese Eigenschaften auf das Ding selbst bezieht (auch eine Funktion des Fetisch). Der Stein ist nicht bloss Stein, sondern ein besonderer, weil er einen Bezug auslöst, weil er eine Gedächtnisleistung stimuliert.
Diese Stadt, jener Platz, diese Wegkreuzung, das Haus dort, jenes Klassenzimmer, dieser Raum: plötzlich erinnere ich mich, jäh bricht die Vergangenheit herein oder öffnen sich Ausblicke, genährt von akkumuliertem Wissen.

Der Raum weiss nichts. Stumm die Mauern. Kahl die Wände. Blind die Fenster. Aber wenn die rechte Person gegenübertritt, eintritt, belebt sich das So-seiende, das anscheinend Tote und wird beredt. Geschichten werden hörbar, Ereignisse schwimmen hoch im Erinnerungsmeer, und für Momente ist alles beseelt, lebendig, jetzig.

Ich drehe mich um. Ähnlich der Musik, mit deren Verklingen die erzeugte Tonwelt erlischt, schwindet aus meinem Gedächtnis der Gehalt. Wann kann ich es wieder fassen? Wann kommt es mir wieder hoch? Wenn ich den Blick zu verwandeln vermag, wenn mein Ohr ein drittes wird zum Hören.


(Text zur gleichnamigen Intallation und Ausstellung von Adam Adamczyk in der Synagogue na Palmovce, Praha 8, 18.10.04 bis 07.11.04)