K o k o n s
Henriette Leinfellners Radierungen

Haimo L. Handl, 15.5.1994

Henriette Leinfellners neue Radierungen unter dem Titel "Kokons" zeigen in ihrer Entwicklung und (Ab)Wandlung dessen, was die Künstlerin so titulierte ein Resultat eines bildhaften "Denkens". Die Bilder als Spuren und Ergebnisse dieses Vorgangs laden ein für vielfältige Deutungen. Die Pfade werden durch den Titel vorgegeben und in bestimmte Bahnen gelenkt. Aber der Betrachter muß selbst was mitbringen, um die Zeichen zu übersetzen, um von einem Denkvorgang in einen anderen zu übertragen, um Sinn zu finden, um Bedeutung herauslesen zu können.

"Kokon" sagt uns zunächst den Wortgehalt, nämlich Hülle, aus welcher etwas schlüpft, sich entpuppt. Aber ihre Bilder sind nie und nimmer Illustrationen oder "bloße" Übersetzungen. Der kontemplative Blick enthüllt die Reichhaltigkeit der Bildwelten von Henriette Leinfellner.

Zwei große Pfade vor allem bieten sich an begangen zu werden: einer der direkteren, sexuellen oder erotischen Deutung (die Psychologisierung so vieler Bereiche unserer Kultur verführt gerade dazu!) und einer der elementaren, urweltlichen. Ich will eher zu letzterem meine Gedanken richten, von dort her die Andeutungen, Schwingungen aufnehmen und weiterspinnen.

Die Kugel, die Puppe, der Kreis. Nichts isoliert, Auch wenn nur ein Teil sichtbar, zeigt das Bild die Welt, den Globus, den Planeten, den Kosmos. Rauh und nicht geglättet, nicht geschliffen fein, sondern stachelig, geritzt, haarig, furchig, in Bewegung. Das Teil für das Ganze. Aus dem Dunkel, aus diesem Ball drängt was oder wird entstoßen: geboren. Entlassen in einen helleren Raum.

Rote Farbe, Feuer? Feuer als zerstörendes, gefährliches Element und als aktiver, lebendiger Stoff der Veränderung. Der helle Raum als bedrohlicher Ort und als zu erobernde Freiheit. Das Wechselspiel, der bedingte Zusammenhang: uralte Sehnsucht und immerneue Ausrichtung: der Kreis als Nabel, die Kugel als äußeres Bild des Uterus, wovon wir gepreßt wurden.

Der Kreis und der Kreislauf, in den Bildern von Henriette Leinfellner kraftvoll, Dunkel und Hell vermengend, nicht plakativ, nicht vordergründig. Der dichte, aus unendlich vielen Strichen gebildete Kreisring könnte ein Nest sein oder ein Wall, aber auch die vulvische Ahnung, das Dreieck als Zentrum der Wahrheit. Was sehen wir dann, wenn nicht das so symbolisch interpretierte? Wie den Drang der Frage nach dem Sinn beantworten, wenn nicht symbolisch? Vielleicht damit und darin, die Komplexität, die unergründliche Welt in Ansätzen und Andeutungen zu sehen und von diesem Bild sich Gedanken machend weitere Bilder generieren, wissend, daß vordergründiges Gleichsetzen, ähnlich dem Symbolisieren, dem Bild wie der Welt Gewalt antut, daß es mehr zu sehen, zu denken gibt...

Dem Weiterspinnen des Kokons ist kaum eine Grenze gesetzt. Der Betrachter erhielt einen Wegweiser. Auf dem Weg mag er Neues sehen und bedenken. Vielleicht merkt er, daß es nicht nur Kokons sind, nur Kreisformen, Kugeln, Dreiecke, Striche, Punkte. Bilder und nicht Abbilder. Aber als solche eben Ergebnisse von Denkwelten, die wahrgenommen, übersetzt werden wollen.