Friedrich Nietzsche

Wenn jetzt jemand eine positive Sprachlehre des heutigen deutschen Allerweltsstils machen wollte und den Regeln nachspürte, die, als ungeschriebene, ungesprochene und doch befolgte Imperative, auf dem Schreibepulte jedermanns ihre Herrschaft ausüben, so würde er wunderliche Vorstellungen über Stil und Rhetorik antreffen, die vielleicht noch aus einigen Schul-Reminiszenzen und der einstmaligen Nötigung zu lateinischen Stilübungen, vielleicht aus der Lektüre französischer Schriftsteller, entnommen sind, und über deren unglaubliche Roheit jeder regelmäßig erzogene Franzose zu spotten ein Recht hat. Über diese wunderlichen Vorstellungen, unter deren Regiment so ziemlich jeder Deutsche lebt und schreibt, hat, wie es scheint, noch keiner der gründlichen Deutschen nachgedacht.
Unzeitgemäße Betrachtungen

Schopenhauers Ausdruck erinnert mich hier und da ein wenig an Goethe, sonst aber überhaupt nicht an deutsche Muster. Denn er versteht es, das Tiefsinnige einfach, das Ergreifende ohne Rhetorik, das Streng-Wissenschaftliche ohne Pedanterie zu sagen: und von welchem Deutschen hätte er dies lernen können?
Unzeitgemäße Betrachtungen

Und um gleich das Höchste zu sagen, was ich von seiner Darstellungsart sagen kann, so beziehe ich auf ihn seinen Satz, »ein Philosoph muß sehr ehrlich sein, um sich keiner poetischen oder rhetorischen Hilfsmittel zu bedienen«.
Unzeitgemäße Betrachtungen

Den Gedanken verbessern. -
Den Stil verbessern - das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! - Wer diess nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.
Menschliches, Allzumenschliches II/2/131

Schreibstil und Sprechstil. -
Die Kunst, zu schreiben, verlangt vor Allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat: also für Gebärden, Accente, Töne, Blicke. Desshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres; - er will mit Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders, als wir sie lesen; er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet. - Cicero's Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisirt werden: jetzt ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann.
Menschliches, Allzumenschliches II/2/110

Urzustände in der Rede nachklingend. -
In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behauptungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. - Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindisch waren.
Menschliches, Allzumenschliches I/6/342

Warum man widerspricht. -
Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.
Menschliches, Allzumenschliches I/6/303

Sich gut zu Gehör bringen. -
Man muss nicht nur verstehen, gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen. Die Geige in der Hand des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum zu gross ist; man kann da den Meister mit jedem Stümper verwechseln.
Menschliches, Allzumenschliches I/4/177

Das aber, dem Heraklit auswich, ist das gleiche noch, dem wir jetzt aus dem Wege gehn: der Lärm und das Demokraten-Geschwätz der Ephesier, ihre Politik, ihre Neuigkeiten vom "Reich" (Persien, man versteht mich), ihr Markt-Kram von "heute" - denn wir vor allem "Heute". Wir verehren das Stille, das Kalte, das Vornehme, das Ferne, das Vergangne, jegliches überhaupt, bei dessen Aspekt die Seele sich nicht zu verteidigen und zuzuschnüren hat - etwas, mit dem man reden kann, ohne laut zu reden. Man höre doch nur auf den Klang, den ein Geist hat, wenn er redet: jeder Geist hat seinen Klang, liebt seinen Klang. Das dort zum Beispiel muß wohl ein Agitator sein, will sagen ein Hohlkopf, Hohltopf: was auch nur in ihn hineingeht, jeglich Ding kommt dumpf und dick aus ihm zurück, beschwert mit dem Echo der großen Leere. Jener dort spricht selten anders als heiser: hat er sich vielleicht heiser gedacht? Das wäre möglich - man frage die Physiologen -, aber wer in Worten denkt, denkt als Redner und nicht als Denker (es ver- rät, daß er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, daß er eigentlich sich und seine Zuhörer denkt). Dieser Dritte da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns an den Leib, sein Atem haucht uns an - unwillkürlich schließen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist, durch das er zu uns spricht: der Klang seines Stils sagt den Grund davon - daß er keine Zeit hat, daß er schlecht an sich selber glaubt, daß er heute oder niemals mehr zu Worte kommt. Ein Geist aber, der seiner selbst gewiß ist, redet leise; er sucht die Verborgenheit, er läßt auf sich warten. Man erkennt einen Philosophen daran, daß er drei glänzenden und lauten Dingen aus dem Wege geht, dem Ruhme, den Fürsten und den Frauen: womit nicht gesagt ist, daß sie nicht zu ihm kämen.
Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: was bedeuten aksetische Ideale? (8)

Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu tun hat, zeigt die Tatsache, daß gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht fürs Ohr, sondern bloß mit den Augen: er hat seine Ohren dabei ins Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las - es geschah selten genug - sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme; man wunderte sich, wenn jemand leise las, und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stimme: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempos, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils dieselben wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze hingen zum Teil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinierten Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Teil von der stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im Sinne der Alten, vor allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von einem Atem zusammengefaßt wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zweimal schwellend und zweimal absinkend und alles innerhalb eines Atemzugs: das sind Genüsse für antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu schätzen wußten - wir haben eigentlich kein Recht auf die große Periode, wir Modernen, wir Kurzatmigen in jedem Sinne! Diese Alten waren ja insgesamt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, folglich Kritiker - damit trieben sie ihre Redner zum Äußersten; in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle Italiener und Italienerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das Gesangs-Virtuosentum (und damit auch die Kunst der Melodik -) auf die Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art TribünenBeredsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen regt) eigentlich nur eine Gattung öffentlicher und ungefähr kunstmäßiger Rede: das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger allein wußte in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen: denn es fehlt nicht an Gründen dafür, daß gerade von einem Deutschen Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer zu spät erreicht wird. Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres größten Predigers: die Bibel war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luthers Bibel gehalten ist fast alles übrige nur "Literatur" - ein Ding, das nicht in Deutschland gewachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen hineinwuchs und -wächst: wie es die Bibel getan hat.
Jenseits von Gut und Böse, Achtes Hauptstück # 247